Gesammelte Werke
nachwirken die langwährende gesellschaftliche Minderbewertung der Musik. Sie hat als letzte Kunst von der Unmittelbarkeit des Gebrauchs sich emanzipiert und sich freigesetzt. Was sie an Jugend und gestauten Kollektivkräften dadurch vor den anderen Künsten allenfalls voraushat, wird gerade im kritischen Bereich bedroht, weil der eigentlich
ästhetischen
Befassung mit Musik nicht der gleiche sichere Boden bereitet ward wie ihrem Handwerk und ihrer Handwerkslehre. Wohl ist darin ein Vorzug der Musik gelegen: sie hat sich – sieht man von Schopenhauer ab – reiner gehalten von der ästhetischen Spekulation, die mit den großen philosophischen Systemen des neunzehnten Jahrhunderts und an sie anschließend die anderen Künste überspann, und im Handwerk liegt heute noch ein wahrhaft zuverlässiger Kanon des Wertes oder Unwertes vergraben. Aber wer kennt ihn und weiß ihm zu gehorchen? Am ehesten der gute Musiker: jedoch nur im eigenen Werke und sich selber gegenüber; gelegentlich in der unverpflichtenden Begegnung mit Fremdem. Allein sein Wissen, ungebrochen durch die kunsttheoretische Erwägung, bleibt gleichsam blind; weder vermag er es bündig und zureichend zu formulieren, noch auch, sich selber und anderen seine zuverlässigen handwerklichen Grundbegriffe ihrer ästhetischen Konstitution nach derart durchsichtig zu machen, daß sie kritisch die gleiche Verbindlichkeit gewännen, die ihnen in der Produktion zukommt: das alte Problem der ›Bildung‹ des Musikers, dem nicht umsonst Hegel in der Ästhetik geistige Unzulänglichkeit vorwirft, spielt da mit all seinen Perspektiven herein. Es ist hier nicht der Ort, das zu verfolgen: wo die Krisis der
Musikkritik
in Rede steht, mag genügen, die Entfremdung des Musikkritikers selbst evident zu machen, und zwar nicht aus der gesellschaftlichen Totalität, sondern aus spezifischen Bedingungen: den Bildungsvoraussetzungen des gegenwärtigen Musikkritikers (nicht des kritisch befaßten Komponisten), an denen das gesellschaftlich Totale besser sich ablesen läßt, als daß umgekehrt zu deduzieren wäre, und die das kritische Unwesen klar repräsentieren.
Nimmt man den Typus des ›verunglückten Musikers‹ aus, der aussterben wird, sobald sein Korrelat, der schreibfähige, doch sachlich ungebundene ›Journalist‹, beseitigt ist; nimmt man weiter aus jene Musikfreunde, die in ihren Mußestunden ›Musikreferate‹ schreiben, so sind dem zünftigen Musikkritiker in der Regel zwei Bildungsmöglichkeiten offen, deren Kombination, obschon selbst längst noch nicht ausreichend, bereits zu den Ausnahmen zählt: das akademische Studium der
Musikwissenschaft
und das
konservatorische
Musikstudium.
Zur Beurteilung der Qualität von Musik aber vermag das gegenwärtige musikwissenschaftliche Studium
nicht
zu befähigen: von neuer so wenig wie von alter. Die Problematik des akademischen ›geisteswissenschaftlichen‹ Unterrichts braucht nicht aufgerollt zu werden. Es ist zuvor die bekannte des philologischen Historismus. Zahllose Studenten der Geisteswissenschaften, die in ein philosophisches Seminar geraten, klagen stets noch darüber, daß sie die Lebensdaten der Meister, ihre Vorläufer und Nachläufer, vor allem auch diejenigen, die über sie gearbeitet haben, kennenlernen: nicht aber die Werke selbst und am wenigsten deren
Gehalt.
Selbstverständlich sind an den Universitäten, unter Einfluß zumal der Georgeschule und der phänomenologischen Tendenzen, aber auch schon älterer ›geisteswissenschaftlicher‹ Intentionen, gegen jene Art von Lehrbetrieb seit Jahrzehnten Gegenströmungen lebendig, und die offizielle geisteswissenschaftliche Diskussion läßt von ihm kaum mehr etwas erkennen. Aber man hüte sich, deshalb seine Zähigkeit zu unterschätzen: besonders da die alte Scherer-Schule und die entsprechenden musikwissenschaftlichen Anschauungen mit ihren bescheidenen geistigen Ansprüchen ja dem ›Examensstudenten‹ – der keineswegs der unbegabte sein muß und oft nur der bedrängte ist –
Arbeitserleichterungen
bieten. Wenn authentisch angeführt werden darf, daß in einem musikästhetischen Seminar, an dem ausschließlich Studenten der Musikwissenschaft teilnahmen, bei kaum mehr als zwei von zwanzig zureichende Kenntnis des »Tristan« und des »Siegfried« vorausgesetzt werden konnte, so spricht das für sich. Selbst angenommen jedoch, daß die »geisteswissenschaftliche« Orientierung der Stoffhuberei ein Ende bereite, bleibt fraglich, ob das
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