Gesammelte Werke
musikwissenschaftliche Studium den Kritiker legitimiere. Wert und Notwendigkeit der genauesten historischen Schulung kann ernsthaft nicht bestritten werden und am letzten auf dem Boden von Anschauungen, die den Wahrheitsgehalt musikalischer Kunstwerke in Kommunikation mit dem geschichtlichen Stande des Materials abzulesen geneigt sind. Aber die musikwissenschaftliche, gerade auch die ›geisteswissenschaftliche‹ Deutung der Geschichte pflegt sich, unter Abstraktion von den handwerklich-immanenten Maßstäben, in einer
Distanz
von dem Forderungszusammenhang des Einzelwerkes und seiner Stimmigkeit abzuspielen, die ihr zwar den Schein der Überlegenheit des weiten, die Epochen umfassenden Blickes verleiht, dafür aber die Konkretion der Werke aus dem Griff verliert, in welcher allein die Antwort Gut oder Schlecht gefunden werden kann. Statt dessen bewegt sie sich zwischen
Stil
begriffen. Wie es von den Kirchentonarten zur Dur- und Molltonalität und zum Generalbaß; von der Suite zur Sonate, von Beethoven zur ›Romantik‹ kommt: das sind ihre vertrauten Fragen, und der geisteswissenschaftlichen Musikgeschichte wird leicht genug jedes Werk nur zum Repräsentanten eines Stils oder zur Schwelle zum nächsten Werk, während die verrufene alte Philologie, ob auch mit falschem exegetischen Eifer, immerhin das ästhetisch echte Bewußtsein von der
Einzigkeit
jeden Kunstwerkes festhielt. Denn wahrhaft fensterlos sind die Monaden der Kunst, und nur in ihrer Unvergleichlichkeit und Abgeschlossenheit gegeneinander vermögen Kunstwerke in Geschichte einzugehen. Nicht ›entwickelt‹ sich aus einem das andere; das vollkommene hinterläßt ein verändertes
Material,
stellt an den späteren Autor neue Forderungen, die mit seinen eigenen, ›subjektiven‹ sich durchdringen zum Augenblick des neuen Werkes. Indem aber dieser Prozeß von der Betrachtung schlecht vereinfacht, aus den technischen – und
zugleich
übertechnischen – Zentren der Werke in ihre Abfolge und ›Stilwandlung‹ verlegt wird, ist gerade der Ort verfehlt, wo allein die Qualität des Werkes gesucht werden dürfte: seine integrale Gestalt. Nur durch die Kategorien ihrer Vollkommenheit werden Werke geschichtlich: jede andere Deutung ihrer Geschichte, wäre es auch eine ›problem-geschichtliche‹, ist ihnen entfremdet und trifft nicht einmal ihre historische ›Bedeutung‹, geschweige denn ihren Wert. Das zeigt sich drastisch an dem hohlen Aufwand von Stilbegriffen, mit dem gerade von der Musikwissenschaft aus die aktuellen kritischen Fragen verdeckt wurden. Klassik und Romantik, Individualismus und Gemeinschaftskunst, Spielmusik und Ausdrucksmusik – soviel Begriffe, soviel Konfusionen. Man macht sich kaum der Übertreibung schuldig, wenn man die
neoklassizistische
Mode, die da hoffte, den Druck des neunzehnten Jahrhunderts abwerfen zu können, indem sie das Erbe, nämlich den Stand des
Materials
verleugnete: daß diese Mode einer Gemeinschaftskunst, die keinen etwas angeht, einer Spielmusik, die langweilt, eines vorgeblich strengen und in Wahrheit zufälligen »Concertat«-stiles, an dem nichts klassisch ist als die Dreiklänge und Figurationen und nichts neu als die willkürlich hinzugesetzten falschen Noten, guten Teiles von der stilhistorisch-musikwissenschaftlichen Kritik gemacht wurde. Sie trachtete, ihr Ressentiment darüber, daß sie bei der eigentlich musikalischen Entwicklung nicht mitkam, loszuwerden, indem sie unter Abstraktion von der Gestalt des stimmigen Werkes und der gesellschaftlichen
Realität
dem Wunschbild des Kollektivs zuliebe aus dem historischen Vorrat beliebig Stil-Ideale objektiven Musizierens hervorsuchte, die mit dem Materialstand, der Forderung des Komponisten an die Stimmigkeit seines Werkes und vor allem den gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen wir existieren, unvereinbar sind und darum nur in der plumpesten Äußerlichkeit, nämlich eben durch die falschen Noten, aktualisiert werden konnten. Daß es ihnen dabei geschah, die dämonisch-gebrochene Figur
Strawinskys,
der mit Cocteau und Picasso, doch mit keinem alten Meister etwas zu tun hat, als den Initiator der überindividuellen Neoklassik einzusetzen, hat den Autor der »Histoire du soldat« vielleicht erheitert, verrät aber im übrigen genau, wie vollkommen desorientiert die bloß stilhistorisch gegründete Musikkritik sich verhält, sobald sie dem konkreten
Phänomen –
und gar einem geistig und technologisch so komplexen wie Strawinsky begegnet.
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