Gesammelte Werke
allemal zu weit, verschwimmt ihnen ihr Gegenstand in der leeren Ferne allgemeiner Zeitvorstellungen, so halten die anderen, die
konservatorisch
Gebildeten, zwar nahe genug beim Gegenstand, prallen aber von seinen dichten Wänden je und je hilflos zurück. Das macht: daß die konservatorische Bildung, auch die beste, nicht mehr ausreicht, in die Forderungen der gegenwärtigen kompositorischen Praxis einzuführen. Denn heute wie nur je vermögen die Konservatorien, als
›Schulen‹,
einzig die Frage zu stellen: »Wie fang ich's nach der Regel an?« Hans Sachsens Antwort aber: »Ihr stellt sie selbst und folgt ihr dann«, ist längst nicht mehr die Charakteristik von Wagners extremer kompositorischer Situation, sondern das Apriori
allen
Komponierens. Nicht einem vorgeordneten Material steht der Komponist gegenüber, sondern einem wesentlich ungeformten; er muß, gleichsam, nicht nur die eigentlich kompositorische Arbeit leisten, sondern was ihm früher Tonart, tradierte Formen, tradierter Klang an die Hand gaben, aus sich heraus neu – oder zumindest nochmals produzieren. Das Wissen aber, das die Konservatorien übermitteln, reicht notwendig nur so weit, wie der Bestand an vorgegebenen Mitteln und in ihnen mitgegebenen Regeln reicht; wo allein noch der Zusammenhang des abgeschlossenen
Werkes
über richtig und falsch entscheidet und jene Regeln versagen, versagt auch das Konservatorium und die ›fertig‹ vorliegenden Disziplinen der Harmonie, des Kontrapunktes, der Fuge, der Formenlehre; kein Zufall, daß eine ihnen einigermaßen äquivalente theoretische Disziplin der
Instrumentation
(nicht bloßer Instrumentenkunde), die als Technik erst im neunzehnten Jahrhundert, also im Zeichen der selbstgestellten Regel durchgebildet ward, überhaupt nicht existiert. Was vermag wohl die herkömmliche ›allgemeine‹ Harmonielehre an den Anfangstakten des Tristan zu lehren? Sie nimmt die harmonisch charakteristischen Noten, im zweiten Takt dis und gis, im dritten ais, als bloß zusätzliche Alteration und als rasch gelösten Vorhalt zum Terzquartakkord der zweiten Stufe und als Vorhalt zum Dominantseptimenakkord von a-moll: das
Phänomen
aber, die beiden Klänge f-h-dis-gis und e-gis-d-ais, die die ganze Musik revolutioniert haben, bleibt ungeklärt; allenfalls werden sie durch Hinweis auf chromatische Stimmführung kontrapunktisch – aber gerade nicht
harmonisch
gedeutet. Diese Klänge aber und nicht das fragwürdige etwas, ›wofür‹ sie stehen, müßten erklärt werden;
sie
sind das Wesentliche, und ihre Auflösungen bloße Akzidentien. Die Wirklichkeit des Kunstwerkes würde die harmonische Norm genau umkehren: das kann die schulmäßige Harmonielehre nicht dulden, solange sie ihren normativen Anspruch, auch nur pädagogisch, einigermaßen behaupten will, und muß deshalb gewaltsam die Hauptsache zur Nebensache umdeuten und umgekehrt – damit aber, zur Rettung der werk
transzendenten
Norm, die werk
immanente
Norm, als die ursprüngliche kritische Instanz, verfehlen. Überflüssig zu sagen, daß diese Schwierigkeit im Angesicht der späteren Musik – mit Ausnahme vielleicht Regers, dessen Harmonik gewissermaßen die Probe aufs Exempel der Riemannschen Funktionstheorie darstellt – sich hoffnungslos steigerte. Wer aber nicht selbst, und zwar ernsthaft, anstatt bloß rezeptiv lernender Weise, komponiert, erfährt kaum eine andere Gesetzmäßigkeit als jene; sie ist der
gesamten
modernen Musik so unangemessen wie die Newtonsche Kausalphysik der gegenwärtigen Quantenmechanik. Man ist heute nicht mehr ein ›Musiker‹, wenn man nur Akkorde verbinden, von einer Tonart mit verminderten Septakkorden in die andere sich winden, Generalbaß spielen, ein Fugenthema beantworten und selbst einen leidlichen Palestrinasatz schreiben kann; jede Komposition, der der Anspruch auf Geltung innewohnt, stellt von sich aus an den Autor Anforderungen, zu denen ihm die traditionellen Disziplinen gewiß die notwendigen Voraussetzungen bieten, die aber vom Boden jener Disziplinen aus schlechterdings nicht gemeistert werden können. Zwischen den mitteilbaren allgemeinen Regeln und der kompositorischen Praxis herrscht ein radikaler
Bruch.
Wer in seiner Ausbildung Forderungen nur von jenen Regeln aus erfährt, die Werke aber durch bloße, normativ unverbindliche ›Analyse‹ kennenlernt, anstatt sie im Zwang ihrer Stimmigkeit zu verfolgen, muß deshalb vor der Frage nach der Qualität ratlos stehen. Neigt der stilhistorische Musikwissenschaftler
Weitere Kostenlose Bücher