Gesammelte Werke
jenen Einfluß auf die Sozialwissenschaften aus, der ihr gebührt. Mag immer Freud zunächst vom Bedürfnis, Neurotikern zu helfen, inspiriert gewesen sein – die Disziplin, die er schuf, war als Psychologie im nachdrücklichsten Sinn geplant und durchgeführt. Die pathogenen Phänomene, von denen er ausging, boten ihm nur den Einsatz für eine Theorie des Seelenlebens insgesamt, auch des sogenannten normalen. Freud hat denn auch die Psychoanalyse keineswegs an die Medizin engherzig gebunden, sondern die »Laienanalyse«, also die von Nichtärzten auszuübende, verteidigt. Um die spezifisch psychologische Tragweite der Einsichten Freuds sich zu vergegenwärtigen, genügt der simpelste Vergleich zwischen einer seiner Schriften und einem vor – Freudischen Lehrbuch der Psychologie. Was sich da zur Trieblehre findet, hat durch die Funde Freuds wahrhaft archaischen Charakter angenommen. Würde Herr Meyer im Ernst leugnen, daß Freud Psychologe war? Nicht anzunehmen, daß ihm darin die Mitglieder des von ihm repräsentierten Psychologenverbandes folgen würden.
Das Argument aber, daß man, wenn die Psychoanalytiker auch Psychologen heißen dürfen, diejenigen Psychologen Mediziner nennen könnte, die das Physikum absolviert haben, ist sophistisch. Psychoanalyse meint unabdingbar die psychodynamische Struktur der Gesamtperson, erhebt also den Anspruch einer spezifisch psychologischen Theorie, während ein Psychologe, der bloß das Physikum abgelegt hat, mit Fragen der klinischen Medizin überhaupt nicht in Berührung gekommen ist und deshalb auch keinerlei Recht auf den Titel eines Mediziners hätte. Das Ganze könnte, als nichtiger Streit über die Nomenklatur, auf sich beruhen, würden nicht solche Unterscheidungen wie die von Herrn Meyer geforderten im öffentlichen und institutionellen Leben vielfach höchst inhaltlichen Zwecken dienen, nämlich dazu, unerwünschte Erkenntnisse und auch unerwünschte Personen draußen zu halten. Im übrigen müßte Herr Meyer auch Nietzsche, der sich mit Vorliebe einen Psychologen nannte, diesen Rechtstitel aberkennen, da er nicht die Diplom-Hauptprüfung ablegte, und ihn allenfalls damit entschuldigen, daß es diese zu Nietzsches Zeiten noch nicht gab.
FRANKFURTER ALLGEMEINE, 1. 4. 1965
Ihr Eigener Bericht aus München, vom 23. März, enthält die Sätze: »Der stellvertretende bayerische Ministerpräsident Dr. Hundhammer hat in einem Gespräch mit Journalisten bekannt, er sei kein Freund der abstrakten Malerei, die er nicht als einen Höhepunkt moderner Kunst anerkennen könne. Der frühere Kultusminister gab damit deutlich zu verstehen, daß er nur wenig Verständnis für den Erwerb eines Picasso-und eines Degas-Gemäldes aufbringe, die der bayerische Staat auf Betreiben von Kultusminister Dr. Huber für über drei Millionen Mark angekauft hat.« Das »damit« des zweiten Satzes ist erstaunlich. Denn es ist doch wohl nachgerade jedem Menschen bekannt, der überhaupt um Kunst sich kümmert, daß Edgar Degas einer der größten impressionistischen Maler war und mit abstrakter Malerei schlechterdings nichts zu tun hat. Bei Picasso, der auch nicht gerade im Verborgenen blüht, mag es für an Defregger geschulte Augen schwieriger sein, sich zurechtzufinden; immerhin sprach sich mittlerweile herum, daß selbst die Werke seiner kubistischen Jahre, vor dem ersten Weltkrieg, nirgends die Beziehung zum Gegenstand durchschnitten. Aus Ihrer Meldung geht nicht hervor, ob die Verbindung zwischen der Antipathie von Herrn Dr. Hundhammer gegen die abstrakte Malerei und seiner Mißbilligung des Ankaufs jener Gemälde vom Berichterstatter hergestellt ward oder von Herrn Dr. Hundhammer selbst. Keinesfalls möchte man dem stellvertretenden Ministerpräsidenten eines deutschen Landes, dessen Hauptstadt sich mit soviel Selbstbewußtsein als Kunststadt fühlt, eine Banausie zutrauen, die nicht nur ihn dem Gelächter preisgäbe; dringend ist zu hoffen, daß Herr Dr. Hundhammer den Sachverhalt richtigstellt. Abgesehen davon jedoch bezeugt die Nachricht, wer immer auch die Verantwortung trägt, aufs neue die Einheit zwischen dem Haß auf moderne Kunst und der Unkenntnis ihrer elementarsten Tatbestände. Man glaubt sich zurückversetzt in jene Epoche, da Einer, im gleichen Atemzug, gegen »diese Im- und Expressionisten« wetterte.
DIE ZEIT, 3. 3. 1967
Schwerlich ist es mir an der Wiege gesungen worden, daß ich einmal etwas zur Apologie von Leoncavallo schreiben würde. Aber: die
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