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Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: W. Theodor Adorno
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zu einer thesenhaften, automatisch in Richtungen denkenden ›Musikpolitik‹, so geht der konservatorisch Gebildete entweder seinem ›Geschmack‹ nach oder mißt die Werke nach eben den Maßstäben, die in Wahrheit bloß noch
pädagogische
Funktion erfüllen sollten; hört Dissonanzen als falsche Töne (oder, noch lieber, als ›Parodie‹, unter welchem Begriff unverbindlich alles Fremde erscheinen kann); freut sich bei jedem Fugatoeinsatz der ›Polyphonie‹, auch wenn es weiter zu gar keiner kommt, und rühmt einen Komponisten als rhythmische Elementarkraft, wenn er nur brav in Achteln stampft – womit er doch gerade seine rhythmische Phantasielosigkeit und
Schwäche
dartut. Oder er spricht kleinbürgerlich, in verstockter Naivetät, von Verschrobenheiten und Verstiegenheiten und kommt in schimpfende Schulmeisterei – anstatt
im
Werk unerbittlich zu helfen, urteilt er nachsichtig
übers
Werk, das er, sei's gut oder schlecht, nicht aufschloß. Welche Kritiker vermögen wohl an einem nicht-tonalen Stück bündig zu zeigen, was, zunächst etwa harmonisch, daran richtig oder falsch, zwangvoll oder gemacht, echt oder unecht sei? Und dennoch
läßt
es sich zeigen, so klar und eindeutig wie an der Harmonisierung eines Chorals. Die Entscheidung der
objektiven
Gültigkeit des Werkes aber steigt allein aus der Erkenntnis seiner immanenten Stimmigkeit auf; in der Monade des Werkes wird dessen Schicksal entschieden, wofern nur der kritische Blickstrahl tief genug zu dringen vermag. Die Entscheidung läßt sich nicht von außen, vom Stil her vorwegnehmen. Die Stilfragen erledigen sich in den kompositorischen Zentren der Werke, nicht in der distanzierten Überschau. Das weiß die Naivetät des Musikers recht wohl, und sein Mißtrauen gegen die versierte Souveränität des Kritikers hat seinen guten Grund, ohne daß doch seine verbundenen Augen, in der Regel, es besser machen können.
    Der Zustand muß hart erkannt werden, wofern er tatsächlich gebessert werden soll. Alle Vorschläge zur Besserung müssen dessen eingedenk bleiben: daß die Krisis der Musikkritik durch die allgemeine Grundtatsache der Entfremdung vorgezeichnet und prinzipiell erst mit ihr zu beseitigen ist. Nahe liegt manchen die Hoffnung, neuer Gemeinschaftswille könne ausreichen, zu verändern. Ohne daß die Tragweite einer realisierten Änderung des Bewußtseins verkannt wird, muß immerhin gesagt sein, daß es nicht sowohl um die Entfremdung von Kritikern und Komponisten als um die von Kritik und Komposition geht und daß menschliche Unmittelbarkeit nicht ohne weiteres Zustände beseitigen kann, die so tief im überindividuellen Produktionsprozeß gründen wie die Krisis der Musikkritik – und
alle
Entfremdung.
     
    1935
     
Reinhold Zickel
    Die Abneigung gegen stehende Redewendungen jüngsten Datums, den stereotypischen Ersatz fürs außer Kurs gesetzte Sprichwort, ist zugleich Ekel vor dem, was sie meinen. Beliebt im deutschen Nachkriegsjargon ist die Formel, einer sei nicht zum Zuge gekommen. Mit blinzelndem Einverständnis wird die universale Konkurrenzsituation als Norm des Lebens, auch des geistigen, unterstellt und das Urteil mitgeplappert, das der am Ende in ein erneutes bellum omnium contra omnes zurückschlagende Konkurrenzmechanismus über den Einzelnen verhängt. Die Welt ist in jenem Ausdruck als geschlossene vorgestellt wie eine Schach- oder Damepartie, in der die Figuren gegeben, die Züge weithin vorgezeichnet sind, und in der das Leben des Individuums wesentlich davon abhängt, ob es überhaupt drankommt; ob es die minimale Chance hat, ohnehin Unvermeidliches auszuführen; nicht aber von seinem Willen, seiner Freiheit und Spontaneität. Widerwärtig bleibt der von Karl Korn gedeutete Sprachgestus, der diesen Zustand womöglich noch billigt. Indem, wer so redet, souveränen Überblick über die prästabilierte Partie beansprucht, deren sämtliche Züge von der Theorie der Eröffnung oder des Endspiels vorgesehen sind, bestätigt er, es gehe, nach dem artverwandten Ausdruck aus der verwalteten Welt, in Ordnung. Sofern aber die abstoßenden Clichés ein selber Abstoßendes treffen, haben sie auch ihre Wahrheit. Ahnungslos wird in ihnen geahnt, wie sehr das Schicksal des Erfolglosen seiner menschlichen Bestimmung widerspricht, ihm äußerlich bleibt, zufällig und ungerecht angesichts dessen, was er für sich ist, keineswegs zufällig nach dem Maß der sich durchsetzenden historischen Tendenz. Oft wird solches Schicksal gerade an dem

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