Gesammelte Werke
steht nicht der ›schlechte‹, unfähige Kritiker in Rede, sondern die gegenwärtigen Voraussetzungen des kritischen Verfahrens selber: Voraussetzungen, die den Schlechten beherrschen und noch dem Besten als Male der Unzulänglichkeit aufgeprägt bleiben.
Dem allgemeinen Bewußtsein ist die Krisis der Musikkritik gegenwärtig in den Kategorien jenes Allerweltsrelativismus, der als Abhub der Lebensphilosophie übrigblieb und den Genuß des Privaten jeglicher objektiven Kontrolle entziehen will. Daß alle Urteile über Kunst zeitlich und »subjektiv bedingt‹ seien, ist seine Lieblingsthese, und so gern ihre Vertreter sich in ästhetische Dispute zur Verteidigung ihrer überkommenen Meinung begeben, so gern versichern sie gleichzeitig, über den Geschmack lasse sich nicht streiten; kommt es hoch, so berufen sie sich auf die Kantische Antinomie der ästhetischen Urteilskraft. In solchen Erwägungen mag immerhin die Unsicherheit gegenüber den kritischen Instanzen sich ausdrücken: angesichts der Krise der Musikkritik bleiben sie kraftlos. Sie entziehen die Willkür des einzelnen dem kritischen Bereich und lassen ihm sein Behagen bei fragwürdigen Dingen, aber sie greifen nicht in die kritische Verfahrungsweise selber ein. Denn sie gelten, völlig abstrakt, für jegliche Kritik so gut wie für gar keine; aller Kritik ist die Grenze menschlicher Bedingtheit gesetzt und keine ist im Recht ihrer Frage durch diese Grenze je beengt worden. Die einzige Konsequenz, die daraus sich ziehen ließe, wäre die
Abschaffung
der Kritik – während allein schon die Geschichte der Kritik selber und ihrer Funktion für das künstlerische Produzieren, das deutsche zumal im Jahrhundert von Lessing bis zur Auflösung der romantischen Schulen, die Möglichkeit
legitimer
Kritik wenigstens als virtuelle Instanz stets wieder aufruft. So ist denn der fruchtlosallgemeine, von jeder konkreten Einsicht ins Formgesetz der Kunstwerke beliebig widerlegbare Einwand des üblichen Relativismus nicht sowohl als Begründung jener Krisis der Musikkritik zu werten denn vielmehr als deren Symptom. Nämlich als Symptom eben der ›Entfremdung‹. Nur dann erscheint das Kunstwerk, selbst aufleuchtende Einheit subjektiven Tuns und objektiven, materialen Seins, als der Kritik unzugänglich, deren bloße Subjektivität davon zurückprallen soll, wenn die Kunstwerke – obwohl von Menschen gemacht – sich in der Gesellschaft den Menschen derart fremd gegenüber gestellt haben, daß diese sich gewissermaßen nicht mehr darin wiederzuerkennen vermögen.
Allgemein-gesellschaftlich vorgezeichnet; in der Idee bereits vom jungen Hegel radikal formuliert in jenem Begriff der Entfremdung, ist die Krisis nur beim Kritiker auf die extreme Form gebracht. Bequem könnte der Hochmut meinen, einzig der ›Laie‹, der sich von Kitsch nährt, sei entfremdet und verdinglicht samt seiner Musik. Aber ihm genau zugeordnet ist der Sachverständige und ›Fachmann‹: sie stellen die klaffenden Hälften einer Ganzheit dar, die doch aus der bloßen Addition der Hälften niemals wiederzugewinnen wäre. Sind dem ›Laien‹ die Kunstwerke bloß ›subjektive‹ Lustbringer, so werden sie dem Fachmann allzuleicht bloß ›objektive‹ Sachen. Mit der Arbeitsteilung sind sie in sein Berufsleben gebannt und gewinnen dort ihre eigentliche dingliche Versteifung, während sie beim Laien
noch nicht
zur Autonomie finden. Die Kunst-Dinge aber, die den beruflichen Lebensraum des Fachmannes füllen, rächen sich an ihm, indem er mit einem Male selbst nichts mehr von ihnen versteht; so wenig wie der Laie, vor dessen Ansprüchen er sie in seine Werkstatt hereinholte. Es wäre in eingehenden gesellschaftlichen Analysen zu verfolgen, wieso es historisch dahin kam. Dabei hätte eine Rolle zu spielen, daß Musik sich nicht sammeln und besitzen läßt und damit alle jene Hilfen wegfallen, die der echten kritischen Kennerschaft im Bereich der bildenden Kunst durch den Typus des Sammlers gewährt werden, der, anders als der ›Laie‹, von der Autonomie des Kunstwerkes weiß und, zugleich, anders als der ›Fachmann‹,
unmittelbar
am Werk Anteil hat. In der Musik mochte im neunzehnten Jahrhundert der Typ des großen ›Amateurs‹ etwas Ähnliches leisten, und man geht wohl nicht fehl, wenn man die Möglichkeit einer immerhin bedeutenderen kritischen Figur, wie Hanslick, aus dem Horizont des Amateurs versteht. Dieser Typ ist ausgestorben: von hier aus kommt der Kritik kein Heil mehr. – Es mag weiter
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