Gesammelte Werke 5: Vier Romane in einem Band
angeborenen Reflexe. Am »Olympic« musste ich warten: Vor mir zog eine lange Kolonne vorbei von rot und grün angemalten Menschen sowie Menschen in qualmenden Schuppenpanzern; mit schleppenden Schritten zogen sie von einer Straße in die nächste und hinterließen einen Geruch nach Schweiß und Farbe. Ich wartete, bis sie vorüber waren. Die Sonne beschien schon den Hotelkoloss und blitzte fröhlich auf das Metallgesicht Wladimir Sergejewitsch Jurkowskis, der wie schon zu Lebzeiten über alle hinwegblickte. Dann war die Kolonne vorüber, und ich ging ins Hotel. Der Empfangschef schlummerte in seiner Loge. Er wachte auf, lächelte devot und fragte mit frischer Stimme: »Wünschen Sie ein Zimmer?«
»Nein«, sagte ich. »Ich möchte Riemaier besuchen.«
»Riemaier? Verzeihen Sie … Zimmer neunhundertzwei?«
Ich blieb stehen. »Ja, ich glaube. Wieso?«
»Ich bitte um Verzeihung, aber Riemaier ist nicht da.«
»Nicht da?«
»Er ist weggefahren.«
»Das kann nicht sein, er ist krank. Irren Sie sich nicht? Zimmer neunhundertzwei.«
»Völlig richtig, neunhundertzwei. Riemaier. Unser ständiger Gast. Vor anderthalb Stunden ist er weggefahren. Genauer, abgeflogen. Freunde haben ihm geholfen herunterzukommen und in den Hubschrauber zu steigen.«
»Was für Freunde?«, fragte ich hoffnungslos.
»Habe ich Freunde gesagt? Ich bitte um Verzeihung, vielleicht waren es auch Bekannte. Es waren drei, zwei davon kannte ich nicht. Es waren junge, sportlich aussehende Män ner. Mr. Pablebridge hingegen kenne ich, er ist unser ständiger Gast, hat sich aber bereits abgemeldet.«
»Pablebridge?«
»Jawohl. In der letzten Zeit traf er sich oft mit Herrn Riemaier, woraus ich schließe, dass sie gute Bekannte sind. Er hatte Zimmer achthundertsiebzehn. Ein stattlicher Mann, nicht mehr ganz jung, mit rötlichen Haaren …«
»Oscar.«
»Richtig. Oscar Pablebridge.«
»Klar«, sagte ich und gab mir Mühe, mich zu beherrschen. »Sie meinen also, man habe ihm geholfen?«
»Ja. Denn er war sehr krank, gestern musste sogar ein Arzt gerufen werden. Er war schrecklich schwach, die jungen Leute hatten ihn untergefasst und trugen ihn beinah.«
»Und die Pflegerin? Er hatte eine Pflegerin.«
»Hatte er. Sie ist gleich nach ihnen weggegangen. Man hatte sie entlassen.«
»Wie heißen Sie?«, fragte ich.
»Wail, zu Ihren Diensten.«
»Hören Sie, Wail«, sagte ich. »Hatten Sie vielleicht den Eindruck, dass Riemaier gewaltsam weggeschafft wurde?«
Ich ließ ihn nicht aus den Augen. Verwirrt zwinkerte er.
»N-nein«, antwortete er. »Aber jetzt, wo Sie das sagen …«
»Gut«, unterbrach ich ihn. »Geben Sie mir den Schlüssel zu seinem Zimmer, und kommen Sie mit!«
Empfangschefs sind in der Regel gewitzt. Jedenfalls haben sie für bestimmte Dinge eine Nase. Offensichtlich hatte er erraten, wer ich war, vielleicht sogar – woher ich war. Ich rief den Portier, flüsterte ihm etwas zu, und wir fuhren mit dem Lift ins achte Stockwerk.
»In welcher Währung hat er bezahlt?«, fragte ich.
»Wer? Pablebridge?«
»Ja.«
»Ich glaube … Ja, in Mark. Deutscher Mark.«
»Und wann kam er zu Ihnen?«
»Augenblick … Ich überlege … Sechzehn Mark … Genau vor vier Tagen.«
»Wusste er, dass Riemaier bei Ihnen wohnt?«
»Verzeihung, das entzieht sich meiner Kenntnis. Aber vorgestern haben sie zusammen Mittag gegessen. Und gestern unterhielten sie sich lange im Vestibül. Früh am Morgen, als noch niemand schlief.«
Riemaiers Zimmer war ungewöhnlich sauber und aufgeräumt. Ich sah mich um. Im Wandschrank standen Koffer. Das Bett war nicht gemacht, wies aber keinerlei Kampfspuren auf. Das Badezimmer war ebenfalls sauber und aufgeräumt. Auf der Konsole lagen »Dewon«-Schachteln.
»Was meinen Sie, soll ich die Polizei rufen?«, fragte der Empfangschef.
»Ich weiß nicht«, antwortete ich. »Beraten Sie sich mit der Administration.«
»Verstehen Sie, ich fange wieder an zu zweifeln. Zwar hat er sich nicht von mir verabschiedet, aber das Ganze sah völlig harmlos aus. Er hätte mir ja ein Zeichen geben können, ich hätte ihn verstanden, wir kennen uns schon lange. Doch er bat Mr. Pablebridge nur: ›Den Empfänger, vergessen Sie den Empfänger nicht …‹«
Der Empfänger lag unter dem Spiegel, von einem achtlos hingeworfenen Handtuch verdeckt.
»Ja?«, sagte ich. »Und was antwortete Mr. Pablebridge?«
»Mr. Pablebridge beruhigte ihn mit den Worten: ›Unbedingt, unbedingt, seien Sie unbesorgt …‹«
Ich nahm den
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