Gesammelte Werke 5: Vier Romane in einem Band
leise.
Die Welle entwickelte sich schnell. Irgendwo am nördlichen Firmament züngelten über den weiten Flächen versengter Erde gigantische Fontänen aus heißem, gifthaltigem Staub in die Stratosphäre.
Das Videofon schrillte los, und Robert gab sich augenblicklich den Anschein eines sehr beschäftigten Mannes. Er dachte, es sei Patrick oder – was bei dieser Hitze einem Unglück gleichgekommen wäre – gar Maljajew. Aber es war Tanja. Sie schien frisch und munter, und auf den ersten Blick war zu sehen, dass bei ihr keine vierzig Grad herrschten, sie auch nicht die stinkenden Ausdünstungen der verdorrten Steppe einatmen musste, sondern dass die Luft, die sie umgab, angenehm kühl war und die Brise vom nahen Meer den frischen Duft von Seetang herüberwehte, der bei Ebbe freigelegt wurde.
»Wie geht’s dir ohne mich, Robby?«, fragte sie.
»Schlecht«, beklagte sich Robert. »Es stinkt, es ist heiß, du bist nicht da, und obwohl ich gar zu gern schlafen würde, geht das nicht.«
»Ach, du Ärmster! Ich dagegen habe im Hubschrauber ein herrliches Schläfchen gemacht. Aber sei getröstet: Ich habe heute auch einen schweren Tag. Wir feiern unser Sommerfest. Da wird es unheimlich viel Trubel geben. Schon jetzt sind die Kinder ganz aus dem Häuschen. Bist du allein im Zimmer?«
»Nein, Kamillo ist hier, aber er sieht und hört wieder mal nichts. Tanja, Liebes, wir müssen uns heute unbedingt treffen. Fragt sich nur wo?«
»Wirst du denn nachher abgelöst? … Na, wenn du willst, fliegen wir in den Süden.«
»Und ob! Eine gute Idee! Weißt du noch das Café im Fischerdorf? Wir werden Seezunge essen und jungen Wein trinken – eisgekühlt!« Robert stöhnte vor Wonne auf und verdrehte die Augen. »Schon jetzt sehne ich den Abend herbei, und wie ich ihn herbeisehne!«
»Ich auch.« Sie sah sich rasch um. »Küsschen, Robby«, sagte sie. »Ich ruf dich vorher noch mal an.«
»Gut«, antwortete Robert. »Ich warte jetzt schon darauf.«
Kamillo schaute noch immer zum Fenster hinaus, die Hände auf dem Rücken verschränkt. Seine Finger waren ständig in Bewegung. Er hatte ungewöhnlich lange, geschmeidige Finger mit kurz geschnittenen Nägeln, und er konnte sie erstaunlich schnell ineinander verflechten und wieder lösen. Robert ertappte sich dabei, dass er das Akrobatenstück nachzumachen versuchte.
»Es geht los«, sagte Kamillo plötzlich. »Ich würde Ihnen raten, mal hinauszuschauen.«
»Was geht los?«, fragte Robert. Er hatte keine Lust aufzustehen.
»Die Steppe ist in Bewegung«, erklärte Kamillo.
Robert erhob sich lustlos aus dem Sessel und trat ans Fenster. Zunächst fiel ihm nichts auf. Dann glaubte er an eine Halluzination. Doch als er genauer hinsah, zog ihn der Anblick so magisch an, dass er mit der Stirn gegen die Scheibe stieß: Die Steppe flirrte. Sie nahm sehr rasch eine andere Färbung an – ein unheimlicher rötlicher Schleier überzog ihre gelben Weiten. Vom Turm aus war zu sehen, wie zwischen den ausgedorrten Halmen hellrote und dunkelrote Pünktchen durcheinanderwimmelten.
»Gott im Himmel!«, rief Robert entsetzt. »Der rote Getreidefraß! Was stehen Sie denn noch herum?« Er hetzte zum Videofon. »Die Hirtenleitstelle!«, brüllte er. »Den Diensthabenden!«
»Am Apparat«, meldete sich der Wachhabende sofort.
»Hier spricht die Steppenwache. Von Norden her ist der Getreidefraß im Anzug! Die ganze Steppe ist schon damit übersät!«
»Wa-a-s? Wiederholen Sie … Wer spricht überhaupt?«
»Hier ist die Steppenwache, Beobachter Skljarow. Von Norden her rückt der Getreidefraß näher! Schlimmer als vor zwei Jahren! Haben Sie verstanden? Die ganze Steppe brodelt schon!«
»Ich habe verstanden. Alles klar. Danke, Skljarow. Verdammtes Pech. Ausgerechnet heute sind unsere Leute alle im Süden. Ein Jammer … na gut …«
»Diensthabender!«, brüllte Robert noch einmal. »Hören Sie, nehmen Sie Verbindung zum Alabasterberg auf oder mit Greenfield. Dort sind genügend Nullphysiker, die müssten helfen können.«
»In Ordnung! Vielen Dank, Skljarow. Geben Sie uns bitte sofort Bescheid, wenn der Getreidefraß wieder abklingt.«
Robert sprang wieder zum Fenster. Der Getreidefraß rollte wie eine Woge heran, schon war vom Gras nichts mehr zu sehen.
»Himmel und Hölle«, murmelte Robert und presste sein Gesicht an die Fensterscheibe. »Diesmal ist es tatsächlich schlimm.«
»Übertreiben Sie nicht, Robby«, sagte Kamillo. »Das eigentliche Unheil kommt erst noch. Was Sie hier
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