Gesammelte Werke 5: Vier Romane in einem Band
Regenbogen,
Regenbogen, Regenbogen …«
Mit einem Satz war Gaba am Fenster und brüllte: »Ru-he!« Der Gesang brach ab. Dafür schlug einer der Burschen einen durchdringenden, klagenden Ton an und plärrte:
»Dig my grave both long and narrow,
Make my coffin neat and stro-o-ong …«
»Ich gehe jetzt«, sagte Gaba etwas betreten und setzte mit einem gewaltigen Sprung über das Fensterbrett. Unten wurde fröhliches Gejohle laut.
»Taugenichtse«, brummte der Direktor und lächelte ihnen wohlwollend hinterher; dann schloss er das Fenster. »Sie haben Langeweile, die Burschen. Richtig fehlen werden sie mir.«
Matwej verharrte noch etwas am Fenster, und Gorbowski betrachtete mit halb geschlossenen Augen den Rücken seines Freundes. Es war ein sehr breiter Rücken, der aber gleichzeitig zusammengekrümmt schien und einen unglücklichen Eindruck machte, sodass Gorbowski eine sonderbare Unruhe in sich aufsteigen fühlte. Matwej als ehemaliger Raumfahrer und Landeflieger durfte einfach keinen solchen Rücken haben.
»Matwej«, setzte Gorbowski erneut an, »brauchst du mich wirklich hier?«
»Ja«, antwortete der Direktor. »Sehr sogar.« Er schaute noch immer zum Fenster hinaus.
»Matwej, sag mir, was los ist.«
»Schwermut, Vorahnungen und Sorgen«, antwortete er und verstummte.
Gorbowski legte sich anders hin, schaltete leise sein Radio ein und sagte ebenso leise: »Also gut, mein Lieber. Ich werde einfach hier sitzen und dir ein bisschen Gesellschaft leisten.«
»Ja, bitte tu das.«
Traurig und versonnen klimperte eine Gitarre. Im Fenster spiegelte sich der Widerschein des rotglühenden Himmels, im Zimmer herrschte Kühle und leichtes Dämmerlicht.
»Abwarten. Wir können nur abwarten«, sagte der Direktor unvermittelt und ging zurück zu seinem Sessel.
Gorbowski schwieg. »Ach herrje!«, rief er plötzlich. »Was bin ich doch unhöflich! Ich habe mich noch nicht einmal erkundigt, wie es Shenja geht.«
»Danke, gut.«
»Ist sie nicht zurückgekommen?«
»Nein, bisher nicht. Ich habe so das Gefühl, dass sie das auch gar nicht will.«
»Wegen Aljoscha?«
»Sicher. Mir ist einfach unbegreiflich, wie sehr er ihr Leben ausfüllt.«
»Weißt du noch, als sie immer sagte: Lass ihn nur erst da sein …«
»Ich erinnere mich an alles«, erwiderte Matwej. »Sogar an das, wovon du gar nichts weißt. Anfangs hat sie sich furchtbar mit ihm geplagt und gejammert, sie hätte keine Muttergefühle, sie wäre aus Holz und so weiter. Dann aber änderte sich das. Ich habe selbst nicht gemerkt, wie. Na ja, er ist aber auch wirklich ein liebes Kerlchen. Sehr freundlich und klug. Als ich eines Abends mit ihm im Park spazieren ging, fragte er mich: ›Papa, was kauert denn da?‹ Ich verstand ihn erst gar nicht, bis ich begriff, was er meinte: Der Wind schaukelte die Laternen hin und her, und der Junge hatte ihre Schatten auf der Erde bemerkt. Kauern – das hat er doch sehr treffend gesagt, nicht wahr?«
»Ja, pass auf, er wird noch unter die Schriftsteller gehen«, stimmte Gorbowski ihm zu. »Aber wäre es nicht trotzdem gut, ihn in den Kindergarten zu schicken?«
Matwej winkte resigniert ab. »Davon kann keine Rede sein«, sagte er. »Shenja gibt ihn nicht weg. Weißt du, zuerst habe ich versucht, sie zu überreden, aber dann dachte ich: Wozu? Was soll man einem Menschen den Lebensinhalt nehmen? Er ist nun mal ihr Ein und Alles. Wie gesagt, mir ist das unbegreiflich, aber ich muss es glauben, weil ich’s sehe. Möglicherweise liegt es daran, dass ich viel älter bin als sie. Aljoscha ist zur Welt gekommen, als ich einen Gutteil meines Lebens schon hinter mir hatte. Manchmal denke ich, dass ich sehr einsam wäre, hätte ich nicht die Gewissheit, ihn jeden Tag sehen zu können. Und Shenja sagt, dass ich ihn nicht wie ein Vater liebe, sondern wie ein Großvater. Das kann gut sein. Verstehst du, was ich meine?«
»Ja«, sagte Gorbowski langsam. »Natürlich … Aber mir sind solche Empfindungen fremd. Ich habe mich noch nie einsam gefühlt.«
»Du bist ein anderer Typ«, stellte Matwej fest. »Solange ich dich kenne, bist du immer von einer Schar von Leuten umringt, die dich alle unbedingt brauchen. Du hast einen guten Charakter …«
»Es ist umgekehrt«, widersprach Gorbowski. »Ich bin es, der sich an die anderen hängt und ihre Gesellschaft sucht. Ich habe nun schon fast ein halbes Jahrhundert auf dem Buckel, und stell dir vor, Matwej, ich bin noch nicht einem einzigen Menschen begegnet, mit dem ich nicht
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