Gesammelte Werke 6
Sie nicht mehr sehen!
In der Küchentür erscheint das besorgte Gesicht Pawel Pawlo witschs. Der Karierte bewegt sich wie ein Raubtier auf Snegirjow zu.
SNEGIRJOW zum Karierten: Na, komm, komm schon, du Schweinehund! Schlag mich meinetwegen zum Krüppel, du Bandit, du Lackaffe, aber dann fliegen hier die Fetzen! Ich schreie nicht nur das Haus, sondern das ganze Viertel zusammen! Komm nur, komm! Fürs Erste reiße ich gleich das Fenster samt Rahmen raus und werf es auf die Straße.
IWAN DAWYDOWITSCH in scharfem Ton: Schluss mit dem Theater!
SNEGIRJOW wild: Und Sie, Vorsitzender des Gewerkschaftskomitees, halten den Mund! Sie halten den Mund und verschwinden mit Ihrer ganzen Bande! Und zwar sofort! Hören Sie?
IWAN DAWYDOWITSCH sehr ruhig: Ihre Tochter heißt Lisa …
SNEGIRJOW : Was geht Sie das an?
IWAN DAWYDOWITSCH : Ihre Tochter heißt Lisa, und Ihre Enkel heißen Foma und Anton, und sie alle wohnen in der Malaja-Tupikowaja-Straße sechzehn. Stimmt’s?
SNEGIRJOW schweigt.
IWAN DAWYDOWITSCH : Ich hoffe, Sie verstehen, was ich damit andeuten will. Sie lesen doch Bücher?
SNEGIRJOW finster: Ich glaube, Sie sind alle verrückt.
IWAN DAWYDOWITSCH : Diese Frage wollen wir jetzt nicht erörtern. Wenn es Ihnen Spaß macht, uns für verrückt zu halten – bitte. In gewissem Sinne mögen Sie sogar recht haben.
SNEGIRJOW : Ich weiß überhaupt nicht, was Sie von mir wollen.
IWAN DAWYDOWITSCH : Das werden Sie gleich erfahren. Das Schicksal wollte es, dass Ihnen unser Geheimnis bekannt wurde.
SNEGIRJOW : Ihre Geheimnisse interessieren mich nicht.
IWAN DAWYDOWITSCH : Das macht keinen Unterschied. Die Untersuchung ist abgeschlossen; darüber brauchen Sie sich keine Gedanken mehr zu machen. Sie stehen jetzt vor der Wahl zu sterben oder unsterblich zu werden.
SNEGIRJOW schweigt, sein Gesicht drückt dumpfe Schicksalsergebenheit aus.
IWAN DAWYDOWITSCH : Sind Sie bereit, diese Wahl zu treffen?
SNEGIRJOW schüttelt langsam den Kopf.
IWAN DAWYDOWITSCH : Warum nicht?
SNEGIRJOW stirnrunzelnd: Warum nicht? Weil es für mich keine Wahl gibt. Wähle ich den Tod, dann werfen Sie mich aus dem Fenster. Wähle ich die Unsterblichkeit, dann denken Sie sich vielleicht noch eine größere Gemeinheit aus. Was ist von Ihnen schon zu erwarten?
NATALJA : Heilige Maria! Wie dumm die Männer heutzutage sind! Ich habe damals gleich begriffen, worum es ging.
IWAN DAWYDOWITSCH : Madame, vergessen Sie nicht: Das ist fünfhundert Jahre her.
NATALJA : Vierhundertdreiundsiebzig Jahre!
IWAN DAWYDOWITSCH : Ja, ja, natürlich. Aber Sie dürfen nicht vergessen, dass es für die damalige Zeit ganz alltäglich war: die Unsterblichkeit, der Stein der Weisen, der Ritt auf einem Besenstiel … Damals war es keine Kunst, jemandem so etwas aufs Wort zu glauben! Aber stellen Sie sich vor, Sie schreiben gerade einen Beitrag für eine Zeitung wie die Kaderschmiede , und da kommt einer und bietet Ihnen die Unsterblichkeit an.
KURDJUKOW aus seinem Winkel: Der lügt doch wie gedruckt. Hier spielt er den dummen August, dabei hat er seine Wahl längst getroffen.
IWAN DAWYDOWITSCH : Hören Sie auf, Bassawrjuk, Sie öden mich an. All das ist jetzt bedeutungslos. Wenn Felix Alexandrowitsch tatsächlich nicht weiß, worum’s geht, wird die Sache erst richtig interessant. Eine Zeit lang blickt er Snegirjow forschend ins Gesicht, dann deklamiert er so ausdrucksvoll, als lese er vom Blatt: In der Nähe der Stadt, im Brennnesselgrund, liegt eine Karsthöhle, die kaum jemand kennt. Tief in ihrem Innern, in einer Grotte, von der erst recht niemand weiß, hängt ein Stalaktit von ungewöhnlich roter Färbung. Von ihm tropft das Elixier des Lebens langsam in eine steinerne Vertiefung hinab. Fünf Teelöffel in drei Jahren. Dieses Elixier schützt den Menschen weder vor Gift noch vor einer Kugel oder einem Schwert – es schützt vor dem Altern. Modern ausgedrückt, ist es eine Art Hormonregulator von ungewöhnlich starker Wirkung. Ein Teelöffel in drei Jahren, oral eingenom men, genügt, um jeden Alterungsprozess im menschlichen Organismus zu verhindern. Jeden! Der Organismus altert nicht! Sie sind jetzt fünfzig Jahre alt. Wenn Sie heute anfangen, das Elixier einzunehmen, bleiben Sie immer fünfzig. Immer. Ewig. Verstehen Sie? Ein Teelöffel in drei Jahren, und Sie bleiben für immer fünfzig Jahre alt.
Snegirjow zuckt mit den Achseln. Nicht dass er alldem Glau ben schenkt, aber Iwan Dawydowitschs nüchterne, sachliche Worte und besonders die von ihm
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