Gesammelte Werke 6
werde ich auch nach draußen gehen.
Und so marschierte ich hinunter zu unserer Konditorei – eine seltsame Konditorei übrigens, wo links auf der Ladentheke die Cremerosetten auf den Torten prangen und rechts daneben reihenweise Schnapsflaschen stehen, die verlockend glitzern. Links drängen sich die alten Weiblein, Frauen und Kinder; rechts, in artiger Schlange aufgestellt, stehen solide Aktentaschen- oder Diplomatenkofferträger, bunt durchmischt mit ihren animalischen, vor lauter Vorfreude erregt quasselnden Brüdern im Geiste. Links begehrte ich nicht das kleinste bisschen, und kaufte rechts eine Flasche Kognak und eine Flasche »Salut«.
Dann fuhr ich wieder mit dem Lift hinauf in die fünf zehnte Etage, drückte mit dem Ellbogen die Flaschen an mich, wischte mir mit der freien Hand den nassen Schnee aus dem Gesicht und wusste schon, wie ich den Abend verbringen würde. Ob es nun am Schneesturm lag, diesem blinden wie blendenden Schneesturm, der die kargen Reste des Tages geschluckt hatte, oder an der Vorfreude, die ich ebenso kannte wie alle Brüder im Geiste – ich wusste ganz genau: Jetzt, wo es mir nun mal bestimmt war, den Abend zu Hause zu sitzen, und meine Rita noch immer nicht zurückgekehrt war, würde ich weder Goga Tschatschua noch Slawka Krutojarski anrufen, sondern den Tag auf ganz besondere Weise beschlie ßen: alleine mit mir. Doch nicht mit dem, den man aus Kommissionen, Seminaren, Redaktionen und dem Klubrestaurant kannte, sondern mit dem, den man nirgendwo kennt.
Er und ich würden jetzt den Tisch in der Küche abwischen und sowohl Flaschen als auch die Fleisch-in-Aspik-Förmchen aus dem Restaurant »Progress« auf Bastdeckchen verteilen. Wir würden überall in der Wohnung Licht einschalten – es werde Licht! – und die Stehlampe aus dem Arbeitszimmer holen. Dann würden wir die jetzt noch verschlossene Tischschublade aufziehen, die Blaue Mappe hervorholen und, wenn der Moment gekommen war, ihre grünen Bändchen lösen.
Während ich mir den Schnee abklopfte, etwas Bequemes anzog und Vorbereitungen traf, dachte ich unablässig darüber nach, wie ich es mit dem Telefon halten sollte. Mir war nämlich eingefallen, dass ausgerechnet heute Abend viele, viele Anrufe kommen konnten – oder kommen mussten, darunter auch sehr wichtige. Andererseits hatte mich das nicht im Mindesten interessiert, als ich vor einer halben Stunde den Abend im Klub zu verbringen beabsichtigte, und wenn ich daran gedacht hätte, wären mir die Anrufe gar nicht so bedeutsam erschienen … Als diese inneren Kämpfe ihren Höhepunkt erreicht hatten, streckte sich meine Hand wie von selbst vor und stellte das Telefon ab.
Sogleich wurde es höchst gemütlich und still in meiner Wohnung, obwohl hinter der Wand nach wie vor linkisch auf einem Klavier geklimpert wurde und ich durch den Lüftungsschacht das Murmeln und Krächzen einer Stimme auf Tonband vernahm.
Nun war meine Zeit gekommen. Doch ich übereilte nichts, sondern beobachtete noch ein wenig, wie der entfesselte Sturm aus der Dunkelheit trocken raschelnden Schnee an mein Fenster trieb … Jammerschade, dass es dort keinen Schneesturm gab. Übrigens gab es dort vieles nicht von dem, was ich hier mochte, dafür aber auch manches, was ich hier vermisste.
Ich löste gemächlich die Bändchen und klappte den Deckel der Mappe auf. Flüchtig, froh und traurig zugleich, dachte ich, dass ich mir das nicht oft gönnte, und auch heute hätte ich es mir versagt, wäre nicht … was gewesen? Das Schneegestöber? Oder Lenja Fips?
Ein Titel stand nicht auf dem Deckblatt. Aber ein Motto:
Ich bin im dritten Kreise, dem des ew’gen,
verwünschten, kalten, qualenvollen Regens
des Art und Weise nimmer sich verändert.
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Ob niemals gleich dies fluchbeladne Volk
zu wirklicher Vollkommenheit gelangt,
wird wesenhafter doch nach jenem Tag es …
Außerdem klebte auf dem Deckblatt eine zerknitterte Re produktion: eine vor Entsetzen wie gelähmte Stadt auf einem Hügel unter tief herabhängenden nächtlichen Wolken, und die Stadt und den Hügel umschließt eine noch schla fende, gigantische Schlange mit glatter, feucht schimmernder Haut.
Aber nicht dieses Bildchen, das viele kannten, sah ich jetzt vor mir, sondern ich sah etwas, was außer mir niemand auf der ganzen Welt – auch nicht im All – sehen konnte. Zurückgelehnt auf meinem Sofa, die Hände
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