Gesammelte Werke 6
gibt Mädchen, die von Natur aus wissen, wie sie sich verhalten sollen. Und Lola war so ein Mädchen. Auch jetzt ist sie reizvoll, wenn sie so still auf der Couch sitzt und man ihre Knie sieht, wenn sie plötzlich die Arme hinter den Kopf legt und sich räkelt. Auf einen Provinzadvokaten muss das enorm wirken … Viktor malte sich einen gemütlichen Abend aus: das Tischchen vor die Couch gerückt, darauf eine Flasche, daneben perlender Sekt in Gläsern, eine Tafel Schokolade mit Schleifchen und der Advokat mit gestärktem Hemd und einer Fliege. Alles, wie es sich gehört, und plötzlich kommt Irma herein … Schrecklich, dachte Viktor. Lola ist nicht zu beneiden.
»Dir dürfte einleuchten«, begann Lola, »dass es nicht ums Geld geht. Geld ist jetzt nicht das Entscheidende.« Sie hatte sich schon wieder etwas beruhigt, und die Röte war aus ihrem Gesicht gewichen. »Ich weiß, dass du auf deine Art ein anständiger Kerl bist, unberechenbar, ja, und ohne Halt, aber im Grunde anständig. Du hast uns immer geholfen, und ich habe dir dahingehend nichts vorzuwerfen. Was ich jetzt brauche, ist eine andere Art von Hilfe. Ich kann zwar nicht von mir behaupten, dass ich glücklich bin, aber du hast mich auch nicht unglücklich gemacht. Du hast dein Leben, und ich habe meins. Ich bin auch noch keine alte Frau und habe noch was vor mir …«
Ich werde das Mädchen mitnehmen müssen, dachte Viktor. Lola hat, wie es scheint, schon alles entschieden. Wenn Irma hierbleibt, macht sie ihr das Leben zur Hölle. Gut, und was fange ich mit ihr an? Mal ehrlich. Ganz ehrlich. Das hier ist kein Spiel … Viktor dachte an sein Leben in der Hauptstadt. Nein, dachte er, das geht nicht. Natürlich könnte ich mir eine Haushälterin nehmen, dann müsste ich mir auf Dauer eine Wohnung mieten … Aber eine Lösung wäre das auch nicht, ich kann das Mädchen ja nicht der Haushälterin überlassen, sie sollte bei mir sein. Man sagt, Kinder, die vom Vater erzogen wurden, seien die besten Kinder. Außerdem gefällt mir Irma – trotz ihrer merkwürdigen Art. Und überhaupt ist es meine Pflicht. Als Mensch und als Vater. Ich habe da einiges wiedergutzumachen. Aber das tut hier nichts zur Sache. Mal ganz ehrlich: Ich habe Angst. Weil sie dann mit ihrem Erwachsenenlächeln und dem großen Mund vor mir stehen wird. Und was sage ich ihr dann? Lies so viel wie möglich, lies jeden Tag, mehr brauchst du nicht zu tun, Hauptsache, du liest. Aber das weiß sie auch ohne mich, und sonst habe ich ihr nichts zu sagen. Deshalb habe ich Angst. Aber auch das ist noch nicht die ganze Wahrheit. Ich habe keine Lust – das ist es. Ich bin ans Alleinsein gewöhnt. Ich bin am liebsten allein. Anders will ich gar nicht leben. So sieht’s aus, wenn ich ehrlich bin. Die Wahrheit ist immer scheußlich. Zynisch, egoistisch und gemein. So ist das mit der Ehrlichkeit.
»Warum sagst du nichts?«, fragte Lola. »Fällt dir denn gar nichts dazu ein?«
»Doch, doch, ich höre dir zu«, erwiderte Viktor hastig.
»Du und zuhören! Ich warte schon seit einer halben Stunde, dass du mich einer Antwort würdigst. Schließlich ist Irma auch dein Kind …«
Muss ich ihr gegenüber auch ehrlich sein? Eigentlich möchte ich das nicht. Anscheinend bildet sie sich ein, dass man so eine Frage auf der Stelle, zwischen zwei Zigaretten entscheiden kann.
»Ich verlange ja nicht, dass du sie zu dir nimmst«, erklärte Lola. »Dass du das nicht tust, weiß ich. Gott sei Dank, kann ich nur sagen, denn zum Erzieher taugst du wirklich nicht. Aber du hast doch Beziehungen, du kennst eine Menge Leute, immerhin bist du ein ziemlich bekannter Mann – hilf mir, sie irgendwo unterzubringen! Es gibt doch privilegierte Lehranstalten, Internate, Spezialschulen. Irma ist eine gute Schülerin, sie hat eine Begabung für Sprachen, für Mathematik und Musik …«
»Ein Internat«, überlegte Viktor. »Ja, natürlich – ein Internat, ein Waisenhaus … Nein, nein, das war nur ein Scherz. Darüber sollte man nachdenken.«
»Was gibt es da groß nachzudenken? Jeder wäre froh, wenn er sein Kind in einem guten Internat oder an einer Spezialschule unterbringen könnte. Die Frau unseres Direktors …«
»Hör zu, Lola«, sagte Viktor. »Das ist eine gute Idee, ich werde meine Fühler ausstrecken, wenn’s auch nicht so einfach ist, wie du dir das vorstellst. Aber ich werde einen Brief schreiben.«
»Einen Brief! Das ist typisch für dich. So was bespricht man persönlich, da muss man schon an ein paar Türen
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