Gesammelte Werke 6
um die Tischkanten geklammert, sah ich Straßen, die nass waren, grau und öde, Vorgärten, in denen Apfelbäume vor Nässe dahinsiechten, schief gewordene Zäune und viele Häuser mit Brettern vernagelt; unter den Simsen kam der Schwamm zum Vorschein, die Farben waren verblichen, und über alldem herrschte ungeteilt der Regen. Regen fiel hernieder, Regen sprühte als feiner Wasserstaub von den Dächern, Regen bildete kreiselnde Nebelsäulen, die von Wand zu Wand torkelten, Regen gurgelte aus rostigen Abflussrohren … Schwarzgraue Wolken krochen über die Dächer, und kein Mensch ließ sich vor der Tür blicken. Menschen waren ungebetene Gäste auf diesen Straßen, und der Regen schonte sie nicht.
Zehntausend Leute habe ich hier in meiner Stadt – Dumm köpfe, Enthusiasten, Fanatiker, Enttäuschte, Gleichgültige, einen Haufen Beamte, Raufbolde, ehrenwerte Bürger, Polizisten, Spitzel, Kinder. Und es bereitet mir ungeheuren Spaß, ihre Schicksale zu lenken, sie in Kollisionen zu bringen – miteinander oder mit den düsteren Wundern, in die sie sich bei mir verstricken.
Noch vor Kurzem hatte ich geglaubt, mit ihnen abgeschlossen zu haben. Jeder hatte von mir das Seine bekommen, jedem hatte ich gesagt, was ich über ihn dachte. Aber wahrscheinlich war es genau diese Eindeutigkeit, dieses Festgelegtsein, das mir allmählich die Kehle zuschnürte und beengende Unruhe und Unzufriedenheit in mir auslöste. Mir fehlte noch etwas; ich musste noch irgendein Bild, ein letztes, gestalten. Allerdings wusste ich nicht, welches, und bisweilen wurde mir angst und bange bei dem Gedanken, dass ich es womöglich nie herausfinden würde. Doch ich wusste: Selbst wenn ich die Sache nicht würde abschließen können – über sie nachdenken würde ich, bis ich dem Alterswahn verfiel, vielleicht auch noch länger.
Schwörst du, auch fernerhin über deine Stadt nachzudenken und zu grübeln, bis dich der Alterswahn packt – oder, wenn möglich, noch länger?
Was bleibt mir anderes übrig? Natürlich schwöre ich, sagte ich und schlug das Manuskript auf.
2
Banew | Im Familien- und Freundeskreis
Als Irma sorgsam die Tür hinter sich geschlossen hatte, steckte sich Viktor bedächtig eine Zigarette an. Mager war sie, langbeinig, ein höfliches Erwachsenenlächeln auf dem großen Mund und die Lippen grellrot geschminkt wie die ihrer Mut ter. Sie ist kein Kind mehr, dachte er erschüttert. Kinder sprechen anders. Und sie war auch nicht grob, sondern grausam, ja schlimmer noch: Es war ihr einfach egal. Als ginge es darum, uns einen Lehrsatz zu beweisen, hatte sie alles durchgerechnet und analysiert, uns anschließend nüchtern das Ergebnis mitgeteilt und sich dann seelenruhig, mit wippenden Zöpfen, entfernt. Viktor bezwang sein Unbehagen und sah zu Lola hinüber. Ihr Gesicht war hektisch gerötet, und die grellroten Lippen zuckten, als wollte sie jeden Augenblick losweinen, aber sie dachte gar nicht daran – sie schnaubte vor Wut.
»Hast du das gesehen?«, sagte sie schrill. »Eine Rotznase, eine Göre – und schon so ein Biest! Nichts ist ihr heilig, jedes Wort eine Beleidigung, als wäre ich nicht ihre Mutter, sondern ein Scheuerlappen, an dem man sich die Füße abtritt. Man schämt sich vor den Nachbarn! So ein Aas, so ein Miststück …«
Und mit dieser Frau war ich verheiratet, dachte Viktor. Ich bin mit ihr in den Bergen gewandert, habe ihr Baudelaire vorgelesen und bin bei der Berührung mit ihr zusammengezuckt, ihr Geruch war mir so vertraut, ja, ich glaube, ihretwegen habe ich mich sogar einmal geprügelt. Ich weiß bis heute nicht, was sie dachte, wenn ich ihr Baudelaire vorlas. Erstaunlich, dass ich von ihr losgekommen bin. Ein Wunder, dass sie mich hat gehen lassen. Wahrscheinlich war mit mir auch nicht gut Kirschen essen. Ist es sicher heute noch nicht, aber damals habe ich noch mehr getrunken als heute und mich obendrein für einen großen Dichter gehalten.
»Dich kümmert das natürlich nicht«, schnaubte Lola. »Du lebst in der Hauptstadt und amüsierst dich mit Tänzerinnen und Schauspielerinnen. Ich weiß alles. Bilde dir bloß nicht ein, dass wir hier nichts davon wissen: von dem vielen Geld, deinen Weibergeschichten und den endlosen Skandalen. Wenn’s dich interessiert, mir ist das alles völlig egal, ich hab dir nie Steine in den Weg gelegt, und du kannst tun und lassen, was du willst …«
Lola verliert dadurch, dass sie zu viel redet. Als junges Mädchen wirkte sie still, schweigsam und geheimnisvoll. Es
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