Gesammelte Werke 6
klopfen! Du hast doch hier sowieso nichts zu tun, säufst und hurst nur rum. Kannst du wirklich nicht mal für die eigene Tochter …«
Verdammt, dachte Viktor. Wie soll ich ihr das nur erklären? Er steckte sich noch eine Zigarette an, stand auf und ging im Zimmer auf und ab. Draußen wurde es dunkel, und nach wie vor rauschte eintönig der Regen, ganz ohne Eile, er dachte gar nicht daran aufzuhören.
»Mein Gott, hab ich dich satt!«, zischte Lola unerwartet feindselig. »Wenn du wüsstest, wie satt ich dich hab …«
Es wird Zeit, dass ich gehe, dachte Viktor. Jetzt kommt sie mir mit ihrem heiligen Mutterzorn, mit dem Groll der Verlassenen … Heute klären wir das ohnehin nicht mehr. Und versprechen werde ich ihr auch nichts.
»Du bist wirklich zu nichts zu gebrauchen«, fuhr sie fort. »Weder als Ehemann noch als Vater. Ein Modeschriftsteller, sonst nichts! Nicht mal die eigene Tochter kannst du erziehen. Jeder Bauer hat mehr Menschenkenntnis als du! Was soll ich bloß machen? Du bist wirklich gar keine Hilfe. Allein kann ich nichts ausrichten. Für Irma bin ich eine Null, jeder ›Nässling‹ ist ihr hundertmal wichtiger als ich. Du wirst dich noch wundern! Wenn du ihr nichts beibringst, bringen sie’s ihr bei! Du wirst noch erleben, dass sie dir ins Gesicht spuckt, genauso wie mir …«
»Hör auf, Lola.« Viktor zog eine Grimasse. »Weißt du, du bist irgendwie … Ich bin der Vater, das ist richtig, aber du bist doch die Mutter. Bei dir sind immer die anderen schuld …«
»Verschwinde!«
»Hör zu, ich habe nicht die Absicht, mit dir zu streiten. Eine Ad-hoc-Entscheidung will ich auch nicht treffen. Ich werde darüber nachdenken. Du aber …«
Hochaufgerichtet stand sie vor ihm und zitterte; sie war tete nur auf seine Vorwürfe, um dann genüsslich einen Streit vom Zaun zu brechen.
»Du aber«, sagte er ganz ruhig, »solltest versuchen, die Nerven zu behalten. Uns wird schon was einfallen. Ich rufe dich an.«
Er ging in die Diele und zog den noch feuchten Regenmantel an. Dann warf er einen Blick in Irmas Zimmer, um sich von ihr zu verabschieden, aber sie war nicht da. Das Fenster stand sperrangelweit offen, und der Regen trommelte auf das Fensterbrett. An der Wand hing ein Transparent, auf dem in schönen großen Buchstaben stand: »Das Fenster bitte immer offen lassen«. Das Transparent war knittrig, fast zerfetzt und voller dunkler Flecke, als hätte man es wiederholt heruntergerissen und darauf herumgetrampelt. Viktor machte die Tür zu.
»Auf Wiedersehen, Lola«, verabschiedete er sich. Lola antwortete nicht.
Draußen war es schon dunkel. Der Regen tropfte ihm auf Schultern und Kapuze. Viktor zog den Kopf ein und schob die Hände tiefer in die Taschen. In dieser Grünanlage haben wir uns zum ersten Mal geküsst, erinnerte er sich. Das Haus da drüben stand da aber noch nicht; hier gab es nur eine freie Fläche und dahinter einen Schuttplatz, da haben wir mit Steinschleudern auf Katzen geschossen. Damals gab es in der Stadt Unmengen von Katzen, jetzt sieht man überhaupt keine mehr. Einen Teufel haben wir uns damals um Bücher geschert, bei Irma aber ist das ganze Zimmer vollgestopft damit. Wie waren zwölfjährige Mädchen zu meiner Zeit? Es waren sommersprossige, ewig kichernde Geschöpfe mit Schleifchen, Püppchen, Häschen- und Schneewittchenbildern, immer zu zweit oder zu dritt unterwegs. Sie tuschelten, kauten Sahnebonbons, hatten schlechte Zähne, einen Reinlichkeitsfimmel und die Angewohnheit zu petzen. Die Besten von ihnen waren wie wir: aufgeschürfte Knie, wilde Luchsaugen und ein Heidenspaß, anderen ein Bein zu stellen … Ob neue Zeiten angebrochen sind? Nein, dachte er. An den Zeiten liegt es nicht. Das heißt, an den Zeiten natürlich auch … Vielleicht ist meine Irma ein Wunderkind? So was gibt’s doch. Ich als Vater eines Wunderkindes. Eine Ehre, aber mühsam. Mühsamer als ehrenvoll, ja eigentlich überhaupt nicht ehrenvoll … Diese Gasse hier habe ich immer gemocht, weil sie schmaler ist als alle anderen. Aha, da gibt es auch schon eine Schlägerei. Natürlich, ohne Schlägereien geht’s bei uns nicht, wir können nicht anders. Das war schon immer so. Und immer zwei gegen einen …
An der Ecke stand eine Laterne. Am Rand des Lichtkegels sah Viktor ein Auto mit Verdeck, auf das der Regen prasselte, und daneben versuchten zwei Männer in glänzenden Regenmänteln einen völlig durchnässten, schwarz gekleideten Burschen zu Boden zu drücken. Die drei stampften
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