Gesammelte Werke 6
Diskussion«, sagte der Nässling. »Ich bleibe hier.«
Viktor stieg, den Nässling noch immer auf den Schultern, schweigend die Stufen hinauf.
»Leg ihn hier ab!«, befahl Diana.
Viktor blieb stehen. »Zum Teufel, hier regnet’s doch.«
»Seien Sie kein Esel«, murmelte der Nässling. »Lassen Sie mich hier liegen.«
Ohne ein Wort zu sagen und immer drei Stufen auf einmal nehmend, erreichte Viktor die Tür und betrat das Vestibül.
»Kretin«, flüsterte der Nässling und ließ den Kopf auf Viktors Schulter sinken.
»Kamel«, zischte Diana, als sie Viktor einholte, und zupfte ihn am Ärmel. »Du Idiot bringst ihn noch um! Schaff ihn sofort raus, und leg ihn in den Regen! Sofort, hörst du? Worauf wartest du noch?«
»Ihr seid ja alle verrückt«, sagte Viktor ebenso wütend wie verwirrt.
Er machte kehrt, stieß mit dem Fuß die Tür auf und betrat die Freitreppe. Darauf schien der Regen nur gewartet zu haben: Bisher hatte es nur leicht genieselt, jetzt aber goss es in Strömen. Der Nässling stöhnte leise, hob den Kopf und hechelte plötzlich, als werde er gehetzt. Viktor zögerte noch immer und sah sich instinktiv nach einem Schutz um.
»Legen Sie mich hin«, verlangte der Nässling.
»In die Pfützen?«, fragte Viktor höhnisch und bitter zugleich.
»Egal. Legen Sie mich irgendwohin.«
Viktor ließ ihn vorsichtig auf die Keramikplatten der Freitreppe gleiten, und der Nässling breitete sofort die Arme aus und streckte sich. Sein rechter Fuß war unnatürlich verdreht, die mächtige Stirn glänzte im Schein der starken Lampe bläulich weiß. Viktor setzte sich neben dem Nässling auf eine Stufe. Am liebsten wäre er ins Vestibül gegangen, brachte es aber nicht übers Herz. Den Verletzten allein im strömenden Regen liegen zu lassen, während er im Warmem saß, kam gar nicht infrage. Wie oft bin ich heute schon als Dummkopf beschimpft worden?, dachte er und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. Ein bisschen zu oft. Aber anscheinend steckt ein Körnchen Wahrheit darin, denn ein Dummkopf, auch Kamel, Esel oder Kretin genannt, ist ein Ignorant, der in seiner Ignoranz verharrt. Dabei geht’s dem Nässling im Regen besser, bei Gott! Er hat die Augen aufgemacht, und die sind gar nicht so furchteinflößend … Ein Nässling, ja, wahrscheinlich eher ein Nässling als eine Brillenschlange. Wie ist er bloß in die Falle geraten? Wo kommen hier überhaupt Fallen her? Das ist der zweite Nässling, dem ich heute begegne, und beide hatten Unannehmlichkeiten, und ich ihretwegen auch …
Diana telefonierte im Vestibül. Viktor hörte ihr zu.
»Der Fuß! … Ja. Der Knochen ist zertrümmert … Gut … Schön. Kommen Sie schnell, wir warten.«
Durch die Glastür sah Viktor, wie sie den Hörer auflegte und die Treppe hinauflief. Unsere Stadt hat neuerdings Probleme mit den Nässlingen. Um sie braut sich etwas zusammen. Allen sind sie auf einmal im Weg, auch dem Direktor des Gymnasiums. Ja, sogar Lola, fiel ihm plötzlich ein. Auch sie hat sich irgendwie abfällig über sie geäußert … Er warf einen Blick auf den Nässling. Der sah ihn an.
»Wie fühlen Sie sich?«, erkundigte sich Viktor. Der Nässling schwieg.
»Brauchen Sie etwas?«, fragte Viktor lauter. »Einen Schluck Gin?«
»Schreien Sie nicht so«, bat der Nässling. »Ich bin nicht schwerhörig.«
»Tut’s weh?«, erkundigte sich Viktor mitfühlend.
»Was denken Sie denn?«
Ein selten unangenehmer Mensch, fand Viktor. Aber was kümmert’s mich, ich sehe ihn nie wieder. Und der Mann hat Schmerzen …
»Das geht vorbei«, sagte er. »Gedulden Sie sich noch ein paar Minuten. Sie werden gleich abgeholt.«
Der Nässling antwortete nicht, er zog die Stirn in Falten und schloss die Augen. Wie er so reglos im strömenden Regen ausgestreckt dalag, sah er aus wie ein Toter. Diana kam mit einem Arztköfferchen auf die Freitreppe geeilt, hockte sich neben den Nässling und machte sich am verletzten Fuß zu schaffen. Der Nässling stöhnte leise, aber Diana redete nicht beruhigend auf ihn ein, wie Ärzte es in solchen Fällen tun.
»Soll ich dir helfen?«, fragte Viktor. Diana antwortete nicht. Er stand auf, und Diana murmelte, ohne den Kopf zu wenden: »Warte, geh nicht weg.«
»Ich gehe nicht weg«, erwiderte Viktor. Er sah zu, wie sie mit geschickten Bewegungen den Fuß schiente.
»Du wirst noch gebraucht«, erklärte sie.
»Ich gehe ja nicht«, wiederholte Viktor.
»Wenn du willst, kannst du kurz hochgehen. Lauf, nimm einen Schluck, solange
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