Gesammelte Werke 6
noch Zeit ist, aber komm dann gleich wieder.«
»Lass nur. Es geht auch ohne.«
Dann hörte man irgendwo hinter der Wand aus Regen Motorgeräusche, und Scheinwerfer blinkten auf. Viktor erblickte einen Jeep, der vorsichtig in die Toreinfahrt bog. Der Jeep rollte vor die Freitreppe, und schwerfällig kletterte Yul Golem heraus, der in einem unförmigen Regenmantel steckte. Er stieg die Stufen hoch, beugte sich über den Nässling und ergriff seinen Arm.
Der Nässling sagte mit dumpfer Stimme: »Keine Spritzen.«
»Gut.« Golem blickte Viktor an. »Heben Sie ihn auf.«
Viktor nahm den Nässling auf die Arme und trug ihn zum Jeep. Golem überholte ihn, machte die Tür auf und stieg ein.
»Reichen Sie ihn herüber«, sagte er aus dem Dunkeln. »Nein, mit den Füßen voran. Na, los doch … Halten Sie ihn an den Schultern fest …«
Schnaufend machte er sich im Wageninnern zu schaffen. Der Nässling begann wieder zu stöhnen, und Golem redete mit ihm, aber vielleicht fluchte er auch nur. Es hörte sich an wie: »Der Hals hat keine Ecken …« Dann stieg er aus, schlug die Tür zu, setzte sich ans Lenkrad und fragte Diana: »Haben Sie’s gemeldet?«
»Nein«, erwiderte Diana. »Soll ich?«
»Jetzt bringt es nichts mehr«, erklärte Golem. »Sie machen sonst alles dicht. Auf Wiedersehen.«
Der Jeep fuhr an, umrundete die Blumenrabatte und rollte die Allee entlang.
»Gehen wir«, sagte Diana.
»Schwimmen wir«, erwiderte Viktor. Jetzt, wo alles vorbei war, fühlte er sich nur noch gereizt.
Im Vestibül hängte Diana sich bei ihm ein.
»Nicht so schlimm«, meinte sie. »Jetzt ziehst du dir tro ckene Sachen an, trinkst einen Schluck, und dann ist die Welt wieder in Ordnung.«
»Ich komme mir vor wie ein begossener Pudel«, entgegnete Viktor wütend. »Und vielleicht erklärst du mir endlich mal, was überhaupt los war?«
Diana seufzte müde. »Nichts Besonderes. Er hätte sich eine Taschenlampe einstecken sollen.«
»Und Fallen am Wegrand sind bei euch ganz normal?«
»Das war der Bürgermeister, dieser Schweinehund …«
Sie stiegen in den ersten Stock hinauf und gingen den Korridor entlang.
»Ist der verrückt?«, wollte Viktor wissen. »Das ist ja kriminell. Oder ist er wirklich verrückt?«
»Nein. Er ist einfach ein Schwein und hasst die Nässlinge. Wie die ganze Stadt.«
»Das habe ich schon bemerkt. Wir waren früher auch nicht von ihnen begeistert, aber gleich Fallen aufzustellen … Was haben die Nässlinge ihnen getan?«
»Irgendjemanden muss man doch hassen. In manchen Ge genden hasst man Juden, in anderen Schwarze und bei uns eben Nässlinge.«
Sie blieben vor einer Tür stehen, Diana drehte den Schlüssel um, trat ein und machte Licht.
»Warte mal«, hielt Viktor inne und sah sich um. »Wo sind wir hier?«
»Das ist das Labor«, antwortete Diana. »Ich komme gleich …«
Viktor blieb an der Tür stehen und sah zu, wie sie durch den großen Raum ging und die Fenster schloss. Unter den Fenstern hatten sich Pfützen gebildet.
»Was hat er in der Nacht hier gesucht?«, wollte Viktor wissen.
»Wo?«, fragte Diana, ohne sich umzudrehen.
»Auf dem Pfad. Du wusstest doch, dass er da war?«
»Ach, weißt du«, antwortete sie, »im Leprosorium mangelt es an Medikamenten. Darum kommen sie manchmal zu uns und holen sich was …«
Sie schloss das letzte Fenster, ging durchs Labor und musterte die mit Geräten und Gefäßen vollgestellten Tische.
»Scheußlich«, befand Viktor. »Ein feiner Staat. Wohin man auch guckt, überall stinkt’s … Gehen wir, mir ist kalt.«
»Gleich.«
Sie nahm ein dunkles Kleidungsstück vom Stuhl und schüt telte es aus. Es war ein Abendanzug für Herren. Sie hängte ihn sorgsam in einen Schrank mit Arbeitskleidung. Was sucht der Anzug hier?, grübelte Viktor. Der kommt mir irgendwie bekannt vor …
»So«, sagte Diana. »Mach, was du willst – aber ich steige jetzt in die Wanne.«
»Hör mal, Diana«, begann Viktor vorsichtig. »Wer war der Mann mit dem gelben Gesicht und der großen Nase? Der, mit dem du getanzt hast …«
Diana fasste ihn unter.
»Weißt du«, sagte sie nach einer Weile. »Das war mein Mann. Mein ehemaliger …«
3
Felix Sorokin | Das Abenteuer
Am Abend hatte ich kein Nitrangin eingenommen. Nicht weil ich es vergessen hätte, sondern weil mir klargeworden war, dass man bei diesem Medikament keinen Alkohol trinken sollte. Morgens fühlte ich mich entsprechend kraftlos und apathisch und musste mich zu allem zwingen: Ich schaffte es
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