Gesammelte Werke 6
wollen. Schon im Einschlafen, fuhr er plötzlich zusammen. Und Irma … Wegen Irma schreib ich an Roz-Tussow, ja, das mache ich. Hauptsache, Roz-Tussow kneift nicht, er ist nämlich ein Feigling. Er schuldet mir neunhundert Kronen. Wenn’s um den Herrn Präsidenten geht, ist das alles unwichtig, dann werden wir alle zu Feiglingen. Warum sind wir bloß so feige? Wovor haben wir eigentlich Angst? Wir haben Angst vor Veränderungen. Dass man nicht mehr in die Schriftstellerkneipe gehen und ein Gläschen Schnaps kippen kann, dass einen der Pförtner nicht mehr kennt, dass es überhaupt keine Pförtner mehr gibt oder sie einen selbst zum Pförtner machen. Ins Bergwerk, das wäre schlimm, das wäre wirklich schlimm. Aber das gibt’s heute kaum noch, es sind andere Zeiten, und die Sitten sind nicht mehr ganz so rau … Wie oft habe ich schon darüber nachgedacht und immer wieder festgestellt, dass man eigentlich gar keine Angst zu haben braucht, und trotzdem hat man welche. Weil die Macht so borniert ist. Es ist furchtbar, wenn einem eine bornierte Macht mit Schweineborsten gegenübersteht, der weder mit Logik noch mit Emotionen beizukommen ist. Und dass es dann keine Diana mehr gibt.
Er schlief ein, wachte jedoch wieder auf, weil unter dem offenen Fenster laute Stimmen und lautes Gelächter ertönten. In den Büschen knackte es.
»Ich kann sie nicht einlochen«, erklärte die betrunkene Stimme des Polizeichefs. »Dafür gibt es kein Gesetz …«
»Es wird schon eins geben«, antwortete Roßschäpers Stimme. »Bin ich Abgeordneter oder nicht?«
»Gibt’s vielleicht ein Gesetz, das es erlaubt, vor den Toren der Stadt einen Seuchenherd einzurichten?«, bellte der Bürgermeister.
»Es wird eins geben«, beharrte Roßschäper.
»Die sind nicht ansteckend«, krähte der Direktor des Gymnasiums im Falsett. »Ich meine, in medizinischer Hinsicht …«
»He, Gymnasium«, rief Roßschäper. »Vergiss nicht, die Hose aufzuknöpfen.«
»Gibt’s vielleicht ein Gesetz, das es erlaubt, ehrliche Leute zu ruinieren?«, bellte der Bürgermeister. »Darf man die ruinieren? Gibt es so ein Gesetz?«
»Ich sage dir doch, es wird eins geben«, wiederholte Roßschäper. »Bin ich Abgeordneter oder nicht?«
Man sollte ihnen eins aufs Dach geben, dachte Viktor.
»Roßschäper!«, rief der Polizeichef wieder. »Bist du mein Freund? Dich Gauner hab ich auf Händen getragen. Dich Gauner hab ich gewählt. Und jetzt treiben sich diese Pestbeulen in der Stadt rum, und ich kann nichts dagegen machen. Es gibt kein Gesetz, verstehst du?«
»Es wird eins geben«, versprach Roßschäper. »Ich sag dir doch: Es wird eins geben. Wegen Vergiftung der Atmosphäre …«
»Der sittlichen Atmosphäre, jawohl!«, warf der Direktor des Gymnasiums ein. »Der sittlichen und moralischen Atmosphäre.«
»Was? … Ich sagte: wegen der Vergiftung der Atmosphäre und aufgrund der unzureichenden Fischzucht in den umliegenden Wasserreservoiren ist der Seuchenherd zu liquidieren und woandershin zu verlegen. Recht so?«
»Lass dich küssen«, sagte der Polizeichef.
»Prima«, meinte der Bürgermeister. »Kluges Kerlchen. Von mir kriegst du auch einen …«
»Unsinn«, widersprach Roßschäper. »Das sind doch Kleinigkeiten. Singen wir ein Lied? Ach nein, lieber nicht. Gehen wir noch mal pinkeln.«
»Richtig. Noch mal pinkeln und ab nach Hause.«
Wieder knackte es in den Büschen, und ein Stück weiter weg hörte man Roßschäper sagen: »He, Gymnasium, du hast vergessen, dich zuzuknöpfen!« Nun wurde es draußen still. Viktor schlief wieder ein und träumte etwas Belangloses, bis das Telefon läutete.
»Ja«, meldete sich Diana heiser. »Ja, ich bin’s.« Sie räusperte sich. »Macht nichts, ich höre … Alles in Ordnung, ich glaube, er war zufrieden … Was?«
Sie hatte sich zum Telefonieren über Viktor gelehnt, und plötzlich spürte er, wie sich ihr Körper straffte.
»Komisch«, sagte sie. »Gut, ich sehe nach. Ja. Gut, ich sag’s ihm.«
Sie legte auf, kletterte über Viktor hinweg und schaltete die Nachttischlampe ein.
»Was ist los?«, fragte Viktor verschlafen.
»Nichts. Schlaf weiter, ich komme gleich wieder.«
Durch die leicht zugekniffenen Lider sah er, wie sie ihre verstreuten Wäschestücke zusammensuchte, und ihr Gesicht war dabei so ernst, dass er sich Sorgen machte. Sie zog sich rasch an und zupfte im Hinausgehen ihr Kleid zurecht. Roßschäper geht’s schlecht, dachte er und horchte. Der alte Wallach liegt im Delirium. In dem
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