Gesammelte Werke 6
Und Sie, mein Herr, würden Sie Ihre Tochter einem Nässling zur Frau geben?
»Mein Name ist Banew«, stellte sich Viktor vor und fragte: »Wie geht’s dem Geschädigten? Dem, der in die Falle geraten ist?«
Der Nässling wandte ihm rasch das Gesicht zu. Als ob er über eine Brustwehr schaut, dachte Viktor.
»Zufriedenstellend«, antwortete der Nässling trocken.
»An seiner Stelle hätte ich Anzeige erstattet.«
»Das hat keinen Sinn«, wandte der Nässling ein.
»Wieso nicht?«, fragte Viktor. »Man muss sich ja nicht unbedingt an die hiesige Polizei wenden, man kann auch zur Bezirksbehörde gehen …«
»Wir brauchen so etwas nicht.«
Viktor zuckte mit den Achseln. »Jede ungesühnte Straftat verursacht eine neue.«
»Ja. Aber das interessiert uns nicht.«
Sie schwiegen eine Weile. Dann sagte der Nässling: »Ich heiße Sursmansor.«
»Ein berühmter Name«, sagte Viktor höflich.»Sind Sie zufällig ein Verwandter von Pavel Sursmansor, dem Soziologen?«
Der Nässling kniff die Augen zusammen.
»Nicht mal ein Namensvetter. Banew, ich habe gehört, dass Sie morgen im Gymnasium sprechen …«
Viktor kam nicht mehr dazu, ihm zu antworten. Hinter ihm wurde ein Sessel gerückt, und eine schneidige tiefe Stimme befahl: »He, du Pestbeule, mach, dass du raus kommst!«
Viktor drehte sich um. Hinter ihm stand der dicklippige Flamin Juventa oder wie immer er heißen mochte – kurzum: der Neffe. Ein Blick genügte, und Viktor spürte Ärger in sich hochsteigen.
»Wen meinen Sie, junger Mann?«
»Ihren Kumpel«, antwortete ihm Flamin Juventa liebenswürdig und kläffte erneut: »Kannst du nicht hören, du nasser Sack?«
»Einen Augenblick«, schaltete sich Viktor wieder ein und stand auf. Flamin Juventa blickte grinsend auf ihn herab. Er sah aus wie ein jugendlicher Goliath, trug eine Sportjacke mit zahlreichen Emblemen und war ein braver einheimi scher Sturmführer, eine treue Stütze der Nation mit Gummi knüppel in der Gesäßtasche – der Schrecken der Linken, der Rechten und der Gemäßigten. Viktor zeigte auf Goliaths Schlips und fragte mit gespielter Sorge und Neugier: »Was haben Sie denn da?« Und als Goliath automatisch den Kopf senkte, um zu sehen, was er da hatte, packte Viktor seine Nase mit Daumen und Zeigefinger. »He!«, rief der jugendliche Goliath verdutzt und versuchte sich loszureißen, aber Viktor ließ nicht locker und drehte und zerrte genüsslich an seiner dreisten, großen Nase. Dabei murmelte er: »Benimm dich anständig, du Grünschnabel, du Laffe von einem Neffen, du lausiger Stürmer, du Hundesohn und Flegel …« Viktors Position war außerordentlich günstig: Zwischen ihnen stand ein Sessel, und Viktors Arme waren länger. Während Goliath also verzweifelt um sich schlug und mit den Fäusten fuchtelte, drehte und knetete Viktor seine Nase, riss und zerrte so lange daran, bis eine Flasche über seinen Kopf hinwegsauste. Viktor sah sich um: Die ganze Bande – fünf Mann, darunter zwei Hünen – rückte, Tische beiseiteschiebend und Sessel umkippend, auf ihn zu. Für einen kurzen Moment erstarrte alles wie auf einem Foto: der schwarze Sursmansor, der gelassen in seinem Sessel saß; Teddy, der über den Tresen sprang; Diana mit einem weißen Päckchen mitten im Saal; im Hintergrund, an der Tür, das grimmige, schnurrbärtige Gesicht des Pförtners und ganz dicht vor ihm die wutverzerrten Visagen mit den aufgerissenen Rachen. Dann geriet alles in Bewegung, und das Foto wurde zu einem Film.
Den ersten Hünen setzte Viktor durch einen gezielten Schlag gegen das Jochbein außer Gefecht; er tauchte für längere Zeit ab. Der andere Hüne erwischte Viktor am Ohr, und ein anderer schlug ihm mit der Handkante gegen die Wange – offenbar hatte er die Kehle verfehlt. Der Nächste – der befreite Goliath? – sprang ihn von hinten an. Die Stützen der Nation waren primitive Schläger: Nur einer von ihnen konnte boxen, dem Rest kam es weniger auf einen echten Kampf an als darauf, Viktor zum Krüppel zu schlagen – ihm ein Auge zu zerquetschen, den Mund aufzureißen oder in den Unterleib zu treten. Wäre Viktor allein gewesen, hätten sie ihn fertiggemacht, aber Teddy, der sich an die goldene Regel der Rausschmeißer hielt, nämlich jede Schlägerei im Keim zu ersticken, kam ihm zu Hilfe, und auch Diana warf sich in die Bresche. Diana-die-Rasende, mit hassverzerrtem Gesicht und vollkommen außer sich, in den Händen schon nicht mehr das weiße Päckchen, sondern eine schwere
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