Gesammelte Werke 6
Viktor. »Das verstehe ich nicht. Brauchst du Diana als Modell für ein Selbstporträt?«
»Blödmann«, sagte Dr. Quadriga wieder. »Das wird einfach das Gesicht eines Künstlers …«
»Mein Hintern«, erklärte Diana.
»Das Gesicht eines Künstlers!«, wiederholte Dr. Quadriga. »Du bist doch auch ein Künstler. Und alle, die Schreibverbot haben, und alle, die am Boden sind, und alle, die in meinem Haus leben, das heißt, die nicht mehr leben … Weißt du, dass ich Angst habe, Banew? Ich habe dich nicht umsonst gebeten: Quartier dich bei mir ein, wenigstens für eine Weile. Ich habe eine Villa mit einem Springbrunnen. Der Gärtner ist ausgerissen, er war ein Feigling. Allein halte ich’s dort nicht aus, da bleibe ich lieber im Hotel. Glaubst du, ich trinke, weil ich mich verkauft hab? Irrtum! Das gibt’s nur in den Romanen, die gerade in Mode sind. Wenn du eine Weile bei mir lebst, wirst du alles verstehen. Vielleicht kennst du sie sogar. Vielleicht sind das gar nicht meine Bekannten, sondern deine. Dann wüsste ich wenigstens, warum sie mich nicht kennen. Sie laufen barfuß herum und lachen …« Seine Augen füllten sich plötzlich mit Tränen. »Herrschaften!«, verkündete er. »Ein Glück, dass dieser Pavor nicht hier ist! Auf Ihr Wohl!«
»Prost«, stimmte Viktor mit ein und tauschte einen Blick mit Diana. Diana sah Dr. Quadriga angewidert und besorgt zugleich an. »Keiner kann Pavor leiden«, erklärte Viktor. »Nur ich tanze da aus der Reihe.«
»Ein stiller Teich …«, warnte Dr. Quadriga. »Und ein Frosch springt hinein. Ein unerträglicher Schwätzer. Und Schweiger.«
»Der ist sternhagelvoll«, sagte Viktor zu Diana. »Nichts Schlimmes also …«
»Herrschaften!«, verkündete Dr. Quadriga. »Meine Gnä digste! Ich halte es für meine Pflicht, mich vorzustellen! Rem Quadriga, Doktor honoris causa …«
Viktor traf eine halbe Stunde vor der vereinbarten Zeit im Gymnasium ein, aber Bol-Kunaz wartete schon auf ihn. Der Junge war taktvoll – und so informierte er Viktor nur darüber, dass die Begegnung in der Aula stattfinden werde, um sich sogleich unter dem Vorwand, noch etwas Dringendes erledigen zu müssen, wieder zu entfernen. Viktor schlenderte durch die stillen Korridore, warf einen Blick in die leeren Klassenräume und nahm längst vergessene Gerüche wahr: nach Tinte, Kreide und ewig in der Luft hängendem Staub, nach »blutigen Fehden« und aufreibenden Verhören an der Tafel, nach Gefängnis, Rechtlosigkeit und zum Prinzip erhobener Lüge. Er hoffte auf ein paar freundliche Erinnerungen an Kindheit und Jugend, an Ritterlichkeit und Kameradschaft oder an die erste, große Liebe – aber sie wollten sich nicht einstellen, obwohl er sich alle Mühe gab und bereit war, bei der ersten Gelegenheit Rührung zu empfinden. Alles war wie früher – die hellen, muffigen Klassenräume; die zerkratzten Tafeln; die Bänke mit den eingeritzten, farbig ausgemalten Initialen und den apokryphen Aufschriften über die Gattin und die rechte Hand; die bis zu halber Höhe in fröhlichem Grün gehaltenen Kasemattenwände und der bröckelnde Stuck in den Ecken. All das war ihm genauso verhasst und zuwider wie früher und weckte nichts als Erbitterung und Hoffnungslosigkeit in ihm.
Es dauerte eine Weile, bis er seine Klasse wiederfand und darin seinen Fensterplatz, aber die Bank war inzwischen ausgetauscht worden. Nur auf dem Fensterbrett sah man noch das tief eingeritzte Emblem der Freiheitslegion, und er erinnerte sich lebhaft an die Begeisterung jener Zeit, an die weiß-roten Binden, die Sammelbüchsen »Für den Fonds der Legion« und die wilden, blutigen Schlägereien mit den Roten. Er erinnerte sich an die Porträts, die man damals in allen Zeitungen, in allen Lehrbüchern und an allen Wänden gesehen hatte, an das Gesicht, das ihm damals bedeutsam und schön erschienen war, ihm jetzt aber schlaff, stumpfsinnig und einer Schweineschnauze zum Verwechseln ähnlich vorkam – ein geifernder Wildschweinrachen mit Riesenhauern. So jung und ahnungslos, so dumm und einander so gleich waren sie damals gewesen. Doch er konnte sich über diese Dummheit nicht freuen; es freute ihn nicht, dass er klüger geworden war. Was blieb, war brennende Scham über den ahnungslosen, umtriebigen Grünschnabel von einst, der sich für so einmalig, unersetzlich und auserwählt gehalten hatte … Dann waren da noch die beschämenden kindlichen Begierden und die quälende Angst vor einem Mädchen, mit dem man sich schon so
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