Gesammelte Werke 6
meine Helden für verkommen halte. Sie haben nichts begriffen, gar nichts. Wie sollten sie auch – es sind ja Kinder, seltsame, krankhaft kluge Kinder, aber eben doch Kinder – mit kindlichen Erfahrungen und einer kindlichen Menschenkenntnis, mit angelesenem Wissen, kindlichem Idealismus und dem kindlichen Bestreben, alles in Schubfächer mit der Aufschrift »gut« oder »schlecht« einzusortieren. Genau wie die lieben Kollegen …
»Ich habe mich dadurch täuschen lassen, dass ihr wie Erwachsene redet«, erklärte er. »Ich habe sogar vergessen, dass ihr keine Erwachsenen seid. Ich weiß, dass es unpädagogisch ist, euch das zu sagen, aber ich muss es tun, um Klarheit zu schaffen. Offenbar begreift ihr nicht, dass ein unrasierter, hysterischer und immerzu betrunkener Mann ein wunderbarer Mensch sein kann, den man lieben und bewundern muss, dessen Hand zu drücken man für eine Ehre hält, weil er eine Hölle durchgestanden hat, die man sich überhaupt nicht vorstellen kann – und er trotz allem ein Mensch geblieben ist. Ihr haltet die Helden meiner Bücher für den Abschaum der Menschheit, aber das ist noch halb so schlimm. Schlimm ist, dass ihr glaubt, dass ich dasselbe über sie denke wie ihr. Das ist ein Unglück. Ein Unglück in dem Sinne, dass wir einander so nie verstehen werden.«
Weiß der Teufel, welche Reaktion er auf seine freundliche Zurechtweisung erwartet hatte. Dass sie verlegene Blicke tauschen oder ihre Gesichter verständnisvoll aufleuchten würden; oder dass zum Zeichen dessen, dass sich das Missverständnis glücklich aufgeklärt hatte und man nun auf einer neuen, realistischeren Basis noch einmal von vorn anfangen konnte, ein Seufzer der Erleichterung durch den Saal gehen würde … Jedenfalls geschah nichts dergleichen.
In den hinteren Reihen erhob sich wieder der Junge mit den biblischen Augen und fragte: »Können Sie uns sagen, was Fortschritt ist?«
Viktor fühlte sich beleidigt. Natürlich, dachte er. Gleich werden sie fragen, ob eine Maschine denken kann und ob es Leben auf dem Mars gibt. Alles wie gehabt.
»Fortschritt«, sagte er, »ist die Annäherung der Gesellschaft an einen Zustand, in dem die Menschen einander nicht mehr töten, mit Füßen treten und quälen.«
»Was tun sie stattdessen?«, wollte ein dicker Junge von rechts wissen.
»Sie essen und betrinken sich quantum satis«, murmelte jemand von links.
»Warum auch nicht?«, erwiderte Viktor. »In der Geschichte der Menschheit gibt es nicht gerade viele Epochen, in denen die Menschen quantum satis zu essen und zu trinken hatten. Fortschritt ist für mich die Annäherung an einen Zustand, in dem die Menschen einander nicht mehr mit Füßen treten und töten. Was sie stattdessen tun, ist meiner Ansicht nach nicht so wichtig. Wenn ihr so wollt, sind die notwendigen Bedingungen für den Fortschritt meiner Meinung nach wichtig, hinreichende kann man immer noch schaffen …«
»Gestatten Sie«, meldete sich Bol-Kunaz. »Nehmen wir an, die Automatisierung schreitet im heutigen Tempo voran. Dann fliegt in ein paar Jahrzehnten die überwiegende Mehrheit der Erdbevölkerung aus dem Produktionsprozess und dem Dienstleistungssektor heraus. Sie braucht nicht mehr zu arbeiten. Wie schön: Alle sind satt, niemand hat mehr einen Grund, den anderen mit Füßen zu treten, keiner steht dem anderen im Wege – und keiner braucht mehr den anderen. Natürlich gibt es noch ein paar Hunderttausend, die dafür sorgen, dass die alten Maschinen laufen und neue geschaffen werden, die übrigen aber – und das sind Milliarden – brauchen einander nicht mehr. Finden Sie das gut?«
»Ich weiß nicht«, überlegte Viktor. »Gut kann ich das nicht finden. Es ist irgendwie traurig. Aber ich muss sagen, dass ich es immer noch besser finde als das, was wir heute beobachten. Ein gewisser Fortschritt ist immerhin vorhanden.«
»Möchten Sie in so einer Welt leben?«
Viktor überlegte.
»Wisst ihr, ich kann es mir nicht so recht vorstellen, aber um ehrlich zu sein, würde ich es gern einmal ausprobieren.«
»Können Sie sich einen Menschen vorstellen, der in einer solchen Welt absolut nicht leben möchte?«
»Natürlich kann ich das. Es gibt Menschen – ich kenne einige –, die sich dort langweilen würden. Da können sie keine Macht mehr ausüben und über niemanden mehr herrschen, und es gibt keinen Grund, andere mit Füßen zu treten. Allerdings werden sie darauf kaum verzichten wollen – das gibt ihnen immerhin die seltene Gelegenheit, ein
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