Gesammelte Werke 6
Frage beginnen. Also … Habt ihr meine Bücher gelesen?«
»Ja«, antworteten die Kinderstimmen. »Haben wir … alle samt …«
»Großartig«, erwiderte Viktor bestürzt. »Obwohl es mich sehr wundert, fühle ich mich geschmeichelt. Na schön, weiter … Möchtet ihr, dass ich euch erzähle, wie einer meiner Romane entstanden ist?«
Vorübergehend trat Schweigen ein, bis mitten im Saal ein magerer Junge mit Pickeln aufstand, »nein« sagte und sich setzte.
»Wunderbar«, meinte Viktor. »Entstehungsgeschichten wer den ja ohnehin stark überschätzt. Fragen wir weiter. Möchten die verehrten Zuhörer etwas über meine schöpferischen Pläne erfahren?«
Bol-Kunaz stand auf und sagte höflich: »Herr Banew, die Fragen, die unmittelbar mit Ihrer Schreibtechnik zusammen hängen, sollten wir uns für den Schluss aufheben, wenn wir uns einen Überblick verschafft haben.«
Er setzte sich. Viktor steckte die Hände in die Taschen und spazierte wieder auf und ab. Die Sache wurde interessant, zumindest war sie ungewöhnlich.
»Vielleicht interessieren euch ja Anekdoten aus dem Schrift stellermilieu?«, fragte er einschmeichelnd. »Wie ich mit Hemingway auf Jagd ging. Wie Ehrenburg mir einen russischen Samowar schenkte. Oder was Sursmansor sagte, als wir uns in der Straßenbahn begegneten …«
»Sind Sie Sursmansor tatsächlich begegnet?«, tönte es aus dem Saal.
»Nein, das war nur ein Scherz«, antwortete Viktor. »Was ist nun mit den Anekdoten aus dem Schriftstellermilieu?«
»Darf ich eine Frage stellen?« Der picklige Junge stand auf.
»Ja, natürlich.«
»Wie möchten Sie uns in der Zukunft sehen?«
Ohne Pickel, ging es Viktor durch den Kopf, doch er vertrieb den Gedanken sofort, weil er begriff: Jetzt wird’s ernst. Die Frage hatte es in sich. Es wäre schön, wenn mir jemand sagen könnte, wie ich mich in der Gegenwart sehen möchte, dachte er. Aber er musste dem Jungen antworten.
»Klug«, antwortete er aufs Geratewohl. »Ehrlich. Gutherzig. Ich möchte, dass ihr eure Arbeit liebt und für das Wohl der Menschen arbeitet.« (Geschwafel, dachte er. Aber wie lässt sich das vermeiden?) »Ja, ungefähr so …«
Im Saal kam Unruhe auf, dann fragte jemand, ohne aufzustehen: »Glauben Sie wirklich, dass Soldaten wichtiger sind als Physiker?«
»Ich?«, fragte Viktor empört.
»Das schließe ich aus Ihrer Erzählung ›Das Unglück kommt nachts‹.«
Der da sprach, war ein semmelblonder Knirps von höchs tens zehn Jahren. Viktor hüstelte. Man mochte »Das Unglück« ein schlechtes oder ein gutes Buch nennen, auf keinen Fall aber war es ein Kinderbuch. Es war so wenig ein Kinderbuch, dass kein Kritiker schlau daraus wurde: Alle hielten es für einen pornografischen Reißer, der die Moral und das Nationalbewusstsein untergrub. Und was das Schlimmste war: Der semmelblonde Knirps hatte allen Grund anzunehmen, dass der Autor des »Unglücks« die Soldaten – in gewisser Hinsicht jedenfalls – für »wichtiger« hielt als die Physiker.
»Die Sache ist so …«, sagte Viktor eindringlich. »Wie soll ich’s erklären … Es kann alles Mögliche vorkommen.«
»Mir geht’s dabei keinesfalls ums Physiologische«, warf der semmelblonde Knirps ein. »Mir geht es um die Grundkonzeption des Buches. Vielleicht ist ›wichtiger‹ auch nicht das richtige Wort …«
»Mir geht es auch nicht ums Physiologische«, erklärte Viktor. »Ich wollte nur zum Ausdruck bringen, dass es Situationen gibt, in denen der Bildungsstand keine Rolle spielt.«
Bol-Kunaz leitete zwei Zettel an ihn weiter: »Kann man einen Menschen, der für den Krieg arbeitet, ehrlich und gut nennen?« Und: »Was ist ein kluger Mensch?«
Viktor begann mit der zweiten Frage. Sie war einfacher.
»Klug«, antwortete er, »ist ein Mensch, der sich der Unvollkommenheit und Lückenhaftigkeit seines Wissens bewusst ist, der danach strebt, diese Lückenhaftigkeit auszufüllen, und der darin Erfolg hat. Seid ihr damit einverstanden?«
»Nein«, sagte ein hübsches Mädchen und stand auf.
»Wieso nicht?«
»Ihre Definition ist nicht funktional. Danach kann sich jeder Dummkopf für klug halten. Besonders wenn seine Um gebung ihn in dieser Ansicht bestärkt.«
Ja, dachte Viktor. Leise Panik erfasste ihn. Das ist keine Plauderei mit Schriftstellerkollegen.
»In gewisser Weise haben Sie recht«, sagte er und ging zu seiner eigenen Überraschung zum »Sie« über. »Ansonsten aber sind ›dumm‹ und ›klug‹ historische und eher subjektive
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