Gesammelte Werke 6
sich.
»Nicht doch!«, rief ich. »Bleiben Sie! Es ist mir ein Vergnügen, mich mit Ihnen zu unterhalten, und ich habe noch tausend Fragen!«
»Das ist zu liebenswürdig, Alexander Iwanowitsch, aber Sie sind müde, Sie müssen sich ausruhen …«
»Überhaupt nicht!«, widersprach ich ungestüm. »Im Gegenteil!«
»Alexander Iwanowitsch«, sagte der Unbekannte mit einem freundlichen Lächeln und sah mir tief in die Augen. »Aber Sie sind wi-rk-li-ch müde . Und Sie wollen sich wi-rk-li-ch ausruhen.«
Und schon verspürte ich ein starkes Schlafbedürfnis. Mir fielen die Augen zu, und ich wollte nicht mehr sprechen. Ich wollte überhaupt nichts mehr. Nur noch schlafen.
»Es war mir ein Vergnügen, Sie kennengelernt zu haben«, verabschiedete sich der Unbekannte leise.
Ich sah, wie er blasser und blasser wurde und sich allmählich in Luft auflöste. Zurück blieb nur ein leichter Hauch von teurem Eau de Cologne. Ich bereitete mir auf dem Fußboden notdürftig ein Lager, drückte die Nase ins Kissen und schlief auf der Stelle ein.
Ein Flügelschlag und ein unangenehmes Krächzen weckten mich. Im Zimmer herrschte merkwürdiges bläuliches Halbdunkel. Der Adler auf dem Ofen schüttelte raschelnd sein Gefieder, stieß grässliche Schreie aus und schlug mit den Flügeln gegen die Zimmerdecke. Ich setzte mich auf und versuchte zu ergründen, was los war. Mitten im Zimmer schwebte ein Hüne in Trainingshosen und einem lose darüberhängenden Hawaiihemd in der Luft. Unter ihm lag der Zylinder, und er ließ, ohne ihn zu berühren, die riesigen Pranken über ihm kreisen.
»Was ist hier los?«, wollte ich wissen.
Der Hüne warf mir einen Blick über die Schulter zu und wandte sich wieder ab.
»Kriege ich keine Antwort?«, fragte ich wütend. Ich war noch immer sehr müde.
»Bleib ruhig, Sterblicher«, erwiderte der Hüne mit heiserer Stimme.
Er hörte mit seinem Hokuspokus auf und griff nach dem Zylinder. Seine Stimme kam mir bekannt vor.
»He, Freundchen!«, drohte ich. »Leg das Ding wieder hin, und mach, dass du rauskommst.«
Der Hüne schob den Unterkiefer vor und starrte mich an. Ich schlug die Bettdecke zurück und stand auf.
»Los, leg das Umoplekt hin!«, schrie ich.
Der Hüne ließ sich auf den Fußboden herab, spreizte die Beine und ging in Kampfstellung. Obwohl die Lampe nicht brannte, wurde es im Zimmer plötzlich heller.
»Bürschchen«, sagte der Hüne. »Die Nacht ist zum Schlafen da. Leg dich wieder hin.«
Offenbar war er nicht abgeneigt, seine Kräfte zu messen. Ich übrigens auch nicht.
»Gehen wir auf den Hof«, schlug ich nüchtern vor und zog meine Turnhose hoch.
Da deklamierte plötzlich jemand gefühlvoll:
»Auf mich wirf alle Taten
mit auf die Allseele gerichtetem Geist!
Frei von Hoffnung und Ichsucht geworden,
kämpfe befreit von Trübsal!«
Ich fuhr zusammen, und dem Burschen erging es nicht anders.
»Das ist die Bhagavadg ı ta!«, erklärte die Stimme. »Dritter Gesang, Vers dreißig.«
»Das war der Spiegel«, sagte ich automatisch.
»Weiß ich selber«, brummte der Hüne.
»Leg das Umoplekt hin«, forderte ich ihn auf.
»Was trompetest du wie ein kranker Elefant?«, versetzte der Hüne. »Gehört es etwa dir?«
»Dir vielleicht?«
»Jawohl, mir!«
Da ging mir ein Licht auf.
»Also hast du auch das Kanapee stibitzt?«
»Kümmere dich um deinen eigenen Kram«, riet mir der Hüne.
»Bring das Kanapee zurück«, verlangte ich. »Ich habe dafür unterschrieben.«
»Scher dich zum Teufel!«, schimpfte der Hüne und sah sich nach allen Seiten um.
Und da tauchten im Zimmer zwei weitere Gestalten auf: eine dünne und eine dicke und beide in gestreiften Pyjamas; sie erinnerten an Insassen von Sing Sing.
»Kornejew!«, kreischte der Dicke. »Sie sind also der Kanapeedieb? Das ist unerhört!«
»Ach, ihr könnt mir alle mal …«, sagte der Hüne.
»Sie sind ein Grobian!«, schrie der Dicke. »Man sollte Sie rauswerfen! Ich werde einen Bericht abfassen!«
»Machen Sie, was Sie wollen«, erwiderte Kornejew unwirsch. »Das Abfassen von Berichten ist ja Ihre Lieblingsbeschäftigung.«
»Wie können Sie es wagen, in diesem Ton mit mir zu sprechen? Sie Grünschnabel! Sie Spitzbube! Sie haben das Umoplekt hier liegen lassen! Dem jungen Mann hätte sonst was zustoßen können!«
»Mir ist schon genug zugestoßen«, warf ich ein. »Das Kanapee ist weg, ich schlafe wie ein Hund auf dem Fußboden, und jede Nacht höre ich Stimmen. Noch dazu dieser stinkende Adler …«
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