Gesammelte Werke 6
ausgeschlossen war. Ich trat vorsichtig näher und hockte mich daneben. Der Zylinder wippte hin und her und knisterte leise. Ich reckte den Hals und betrachtete ihn eine Weile, dann pustete ich ihn an. Er trudelte und drohte umzukippen, als plötzlich hinter mir ein Vogel krächzte und ein Windstoß durchs Zimmer fuhr. Ich sah mich um und setzte mich verblüfft auf den Fußboden. Auf dem Ofen hockte ein riesiger Adler mit kahlem Hals und furchteinflößendem krummem Schnabel und faltete bedächtig seine Flügel zusammen.
»Guten Tag«, sagte ich. Ich war fest davon überzeugt, einen sprechenden Adler vor mir zu haben.
Der Adler senkte den Kopf, blickte mich mit einem Auge an und bekam sogleich Ähnlichkeit mit einem Huhn. Ich winkte ihm grüßend zu. Der Adler öffnete den Schnabel, sagte aber nichts. Dann hob er einen Flügel und putzte sich mit knackendem Schnabel. Der Zylinder trudelte und knisterte noch immer. Der Adler hörte auf, sich zu putzen, zog den Kopf zwischen die Schultern und bedeckte seine Augen mit einem gelben Häutchen. Immer bemüht, dem Adler nicht den Rücken zuzukehren, fegte ich die Staubflocken zusammen und streute sie in das regennasse Dunkel vor der Haustür. Dann kehrte ich ins Zimmer zurück.
Der Adler schlief, und es roch nach Ozon. Ich schaute auf die Uhr: Es war zwanzig Minuten nach Mitternacht. Eine Zeit lang betrachtete ich den Zylinder und dachte über das Gesetz von der Erhaltung der Energie und der Materie nach. Adler dürften kaum aus dem Nichts kondensieren. Wenn dieser in Solowetz aufgetaucht war, musste irgendwo im Kaukasus, oder wo diese Vögel heimisch waren, ein (wenn auch nicht unbedingt dieser) Adler verschwunden sein. Ich überschlug die für seinen Transfer benötigte Energie und warf einen erschrockenen Blick auf den Zylinder. Den rührst du lieber nicht mehr an, sagte ich mir. Deck ihn am besten mit etwas zu und lass ihn in Ruhe. Ich holte die Schöpfkelle aus dem Flur, zielte sorgfältig und stülpte sie mit angehaltenem Atem über den Zylinder. Dann setzte ich mich auf den Hocker, zündete mir eine Zigarette an und harrte der Dinge, die noch kommen würden. Der Adler atmete hörbar. Im Lampenschein glänzte sein Gefieder wie Kupfer, die mächtigen Klauen bohrten sich in den Kalk. Allmählich breitete sich Aasgeruch im Zimmer aus.
»Das hätten Sie nicht tun sollen, Alexander Iwanowitsch«, hörte ich eine angenehm klingende männliche Stimme.
»Was denn?«, fragte ich und blickte zum Spiegel hinüber.
»Ich meine das Umoplekt.«
Es war nicht der Spiegel, der da sprach. Das war jemand anderes.
»Ich weiß nicht, wovon Sie reden«, erwiderte ich gereizt. Außer mir war niemand im Zimmer.
»Ich rede von dem Umoplekt«, sagte die Stimme. »Sie hätten die Schöpfkelle lieber nicht darüberstülpen sollen. Mit dem Umoplekt oder, wie Sie sagen, mit dem Zauberstab ist nicht zu spaßen.«
»Darum habe ich’s ja auch zugedeckt. Aber kommen Sie ruhig herein, Genosse, dann können wir uns besser unterhalten.«
»Ich danke Ihnen«, sagte die Stimme.
Vor meinen Augen kondensierte langsam ein blasser, gepflegt aussehender Mann in einem gut sitzenden grauen Anzug. Den Kopf leicht zur Seite geneigt, erkundigte er sich mit ausgesuchter Höflichkeit: »Ich hoffe, ich störe nicht allzu sehr?«
»Überhaupt nicht«, antwortete ich und stand auf. »Bitte, nehmen Sie Platz, fühlen Sie sich wie zu Hause. Möchten Sie ein Glas Tee?«
»Ich danke Ihnen«, sagte der Unbekannte und setzte sich mir gegenüber, wobei er mit einer vornehmen Geste an seinen Hosenbeinen zupfte. »Was den Tee angeht, so bitte ich, mich zu entschuldigen, Alexander Iwanowitsch, ich habe gerade zu Abend gegessen.«
Er blickte mir, weltmännisch lächelnd, in die Augen. Ich lächelte zurück.
»Sie kommen sicher wegen des Kanapees?«, fragte ich. »Das ist nämlich leider nicht mehr da. Es tut mir sehr leid, aber ich weiß nicht einmal …«
Der Unbekannte schlug die Hände zusammen. »Aber das sind doch Lappalien!«, sagte er. »Man sollte nicht so viel Auf hebens von solchem – entschuldigen Sie das Wort – Unfug machen, an den ohnehin niemand ernsthaft glaubt. Sagen Sie selbst, Alexander Iwanowitsch: Was sollen all diese Intrigen und unwürdigen Verfolgungsjagden, diese Unruhe, in die man Menschen dieser mystischen – ja, ich scheue das Wort nicht – mystischen Weißen These wegen versetzt? Jeder klar denkende Mensch betrachtet das Kanapee als einen zwar etwas unhandlichen, aber durchaus
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