Gesammelte Werke 6
ganzen Rahmen mitgerissen, dabei aber vergessen, dass er sich im Erdgeschoss befand. Er hat sich das Knie angeschlagen, Zeter und Mordio geschrien, und jetzt liegt er.«
»Was war denn mit ihm los?«, fragte Viktor gleichgültig. »Delirium tremens?«
»So ungefähr.«
»Warte mal. Hast du dich deswegen zwei Tage lang nicht blicken lassen? Wegen dieses Ochsen?«
»So ist es! Der Chefarzt hatte angeordnet, dass ich bei ihm bleibe, weil er, also Roßschäper, ohne mich nicht klarkäme. Er konnte nicht, basta. Gar nichts konnte er, nicht mal pinkeln. Ich musste ihm vormachen, wie Wasser rauscht, und ihm von einem Pissoir erzählen.«
»Als ob du was davon verstehst«, murmelte Viktor. »Wäh rend du ihm was von einem Pissoir erzählst, schlag ich mich hier allein rum. Ich kann auch nicht ohne dich sein, keine Zeile habe ich geschrieben. Weißt du, ich habe noch nie gern geschrieben, aber in letzter Zeit … Überhaupt ist das Leben in letzter Zeit …« Er stockte. Was hat sie damit zu tun?, dachte er. Sie haben sich gepaart und sind wieder auseinandergelaufen. »Ach ja, hör mal … Wann, sagst du, war der Sprung aus dem Fenster?«
»Vorgestern«, antwortete Diana.
»Abends?«
»Ja«, sagte Diana, die an einem Keks nagte.
»Abends um zehn«, stellte Viktor fest. »Zwischen zehn und elf.«
Diana hörte auf zu kauen.
»Richtig«, sagte sie. »Aber woher weißt du das? Hat er dir ein nekrobiotisches Telepathem geschickt?«
»Warte«, bat Viktor. »Ich erzähle dir gleich etwas sehr Interessantes. Aber zuerst möchte ich wissen, was du in dem Moment gemacht hast.«
»Ich? … Ach ja. Wenn ich mich recht erinnere, ging es mir an dem Abend nicht gut. Ich war gerade beim Bindenwickeln, als mich plötzlich eine solche Schwermut überkam, dass ich mich am liebsten aufgehängt hätte. Ich habe das Gesicht in die Binden gedrückt und Rotz und Wasser geheult. Ich glaube, so habe ich schon seit meiner Kindheit nicht mehr geheult …«
»Und dann war’s mit einem Schlag vorbei«, mutmaßte Viktor.
Diana überlegte.
»Ja. Nein. Dann hab ich draußen plötzlich Roßschäper brül len gehört und bin ganz erschrocken rausgerannt …«
Sie wollte noch etwas sagen, aber da klopfte es. Jemand rüttelte an der Klinke, und aus dem Korridor schallte Teddys heisere Stimme: »Viktor! Viktor, wach auf! Mach die Tür auf, Viktor!« Viktor erstarrte mit dem Rasiermesser in der Hand. »Viktor!«, krächzte Teddy. »Mach auf!« Er zerrte wie ein Verrückter an der Klinke. Diana sprang auf und drehte den Schlüssel um. Die Tür flog auf, und Teddy stürzte nass und zerzaust ins Zimmer. In der Hand hielt er einen Stutzen.
»Wo ist Viktor?«, bellte er heiser.
Viktor kam aus dem Bad.
»Was ist los?«, rief er. Sein Herz hämmerte wild. Eine Verhaftung … Krieg …
»Die Kinder sind weg«, erklärte Teddy schwer atmend. »Zieh dich an, die Kinder sind weg!«
»Warte«, bat Viktor. »Welche Kinder?«
Teddy knallte den Stutzen auf den Tisch, mitten hinein in einen Haufen beschriebener, durchgestrichener und zerknüllter Blätter.
»Die Schweine haben unsere Kinder weggelockt!«, brüllte er. »Die Scheusale haben sie ins Leprosorium gelockt! Jetzt reicht’s! Wir haben dem Treiben lange genug zugesehen. Es reicht!«
Viktor begriff noch immer nicht, er sah nur, dass Teddy außer sich war. So hatte er ihn nur einmal im Leben gesehen – als jemand einen Riesenstreit im Restaurant dazu ausnutzen wollte, Teddys Kasse aufzubrechen. Viktor klappte ratlos die Augen auf und zu. Diana angelte ihre Wäsche von der Sessellehne, schlüpfte ins Bad und machte die Tür hinter sich zu. Im selben Augenblick begann laut und aufdringlich das Telefon zu schrillen. Viktor griff nach dem Hörer. Es war Lola.
»Viktor«, jammerte sie. »Ich verstehe überhaupt nichts mehr, Irma ist weg. Sie hat mir einen Zettel hingelegt, auf dem steht, dass ich sie nie wiedersehen werde, und alle sagen, die Kinder hätten die Stadt verlassen. Ich habe Angst! Bitte tu was …« Sie weinte fast.
»Ja, ja, gleich!«, antwortete Viktor. »Lass mich bitte erst die Hose anziehen.« Er legte den Hörer auf und drehte sich zu Teddy um. Der Barkeeper saß auf dem zerwühlten Bett, murmelte seltsame Worte und füllte die Reste aus den Flaschen in ein Glas. »Warte«, sagte Viktor. »Und keine Panik. Ich bin gleich wieder da.«
Er ging ins Bad zurück und rasierte hastig sein eingeseiftes Kinn zu Ende, wobei er sich mehrmals schnitt, weil er sich nicht die Zeit nahm, das
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