Gesammelte Werke 6
das Blut wich ihm aus dem Gesicht, er keuchte. Offenbar glaubte er daran, was er sagte, und in seinen Augen stand das Grauen vor dieser Schreckensvision. Na, na, warnte Viktor sich selbst. Dieser Halunke ist ein Feind. Das ist ein Schauspieler, der dich für einen Apfel und ein Ei kaufen will. Er merkte plötzlich, dass er sich regelrecht von Pavor losreißen musste. Er ist ein seelenloser Beamter, vergiss das nicht, Viktor. Er kann seiner Bestimmung nach gar keine eigenen Gedanken haben – die Obrigkeit befiehlt’s, also verdient er sich sein Kompott. Befiehlt sie ihm, die Nässlinge zu beschützen, tut er’s. Diese Schweine kenne ich, ich habe genug von ihnen gesehen …
Pavor nahm sich zusammen und lächelte.
»Ich weiß, was Sie denken«, sagte er. »Ich sehe es Ihnen an der Nasenspitze an, dass Sie sich fragen: Warum rückt mir dieser Typ auf die Pelle, was will er von mir? Stellen Sie sich vor: Ich will gar nichts von Ihnen. Ich will Sie nur aufrichtig warnen; Sie sollten sich zurechtfinden und auf die richtige Seite stellen.« Er fletschte krampfhaft die Zähne. »Ich will nicht, dass sie zum Verräter an der Menschheit werden. Eines Tages wird Ihnen ein Licht aufgehen, dann aber könnte es zu spät sein – ganz zu schweigen davon, dass Sie überhaupt von hier verschwinden sollten. Deshalb bin ich nämlich gekommen, um darauf zu bestehen, dass Sie die Stadt verlassen. Vor uns liegen schwere Zeiten: Meine Vorgesetzten legen gerade den größten Diensteifer an den Tag, weil ihnen jemand gesteckt hat: Ihr arbeitet schlecht, Herrschaften, es herrscht keine Ordnung mehr … Aber das ist Unsinn, darüber sprechen wir später. Viktor, ich möchte, dass Sie verstehen, worum es hier geht. Nicht darum, was morgen geschieht; morgen sitzen sie noch hinter ihrem Stacheldraht unter dem Schutz dieser Kretins.« Er fletschte wieder die Zähne. »Aber denken Sie mal zehn Jahre weiter …«
Viktor sollte nie erfahren, was zehn Jahre weiter sein würde. Die Zimmertür flog auf, ohne dass jemand angeklopft hätte, zwei Männer in den gleichen grauen Regenmänteln traten ein, und Viktor wusste sofort, mit wem er es zu tun hatte. Ihm stockte wie immer der Atem, er empfand Ekel und Ohn macht und stand gehorsam auf. Ihm bedeuteten sie jedoch: »Hinsetzen!«, Pavor dagegen: »Aufstehen!«
»Pavor Summan, Sie sind verhaftet.«
Pavor wurde bleich wie Magermilch, stand auf und krächzte heiser: »Den Haftbefehl.«
Sie hielten ihm ein Papier unter die Nase, und während er es wie blind anstarrte, fassten sie ihn unter, führten ihn hinaus und schlossen die Tür. Viktor saß da wie gelähmt, blickte in die Schale mit den Erdbeeren und dachte: Sollen sie sich doch gegenseitig an die Kehle gehen. Er wartete darauf, dass draußen ein Motor ansprang und Wagentüren zuklappten, aber es tat sich nichts. Da steckte er sich eine Zigarette an und merkte, dass er nicht länger stillsitzen konnte. Er musste jetzt mit jemandem sprechen, sich irgendwie ablenken oder wenigstens mit jemandem einen Schluck trinken und verließ das Zimmer. Woher haben sie eigentlich gewusst, dass er bei mir war? Ach, ist ja nicht so wichtig. Sogar völlig unwichtig … Auf dem Treppenabsatz huschte der Hochgewachsene an ihm vorbei. Es war so ungewöhnlich, ihn ohne seinen Begleiter zu sehen, dass Viktor sich nach ihm umdrehte. Und tatsächlich: Auf einer Couch in der Ecke saß der junge Mann mit der Aktentasche hinter seiner ausgebreiteten Zeitung.
»Ach, da ist er ja«, bemerkte der Hochgewachsene. Der junge Mann sah Viktor an, stand auf und faltete die Zeitung zusammen. »Ich wollte gerade zu Ihnen«, sagte er. »Aber wenn’s so ist, können wir auch zu uns gehen, da haben wir mehr Ruhe.«
Viktor war schon alles egal, und so trottete er widerstands los mit hinauf in den zweiten Stock. Der Hochgewachsene machte sich endlos am Türschloss von Zimmer dreihundertzwölf zu schaffen und probierte sämtliche Schlüssel seines riesigen Schlüsselbundes aus. Der junge Mann mit der Brille stand gelangweilt daneben, während Viktor sich fragte, was wäre, wenn er ihm jetzt eins auf den Schädel gäbe, die Aktentasche entrisse und das Weite suchte. Nachdem sie das Apartment betreten hatten, begab sich der junge Mann sofort ins linke Schlafzimmer, der Hochgewachsene sagte »Einen Augenblick« und verschwand im rechten Schlafzimmer. Viktor setzte sich an den Mahagonitisch und strich mit dem Finger über die rauen Kreise, die größere und kleinere Gläser auf der
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