Gesammelte Werke 6
ich auch mal probieren«, meinte der Hochgewachsene. »Mir fehlt bloß die Zeit. Mal ist dies, mal jenes …«
»Ja«, stimmte Viktor zu. »Es fehlt die Zeit.« Bei jeder Bewegung schwang die Medaille hin und her und schlug gegen seine Rippen. So eine Medaille war wie ein Senfpflaster: Nimmst du sie ab, fühlst du dich gleich besser. »Dann werde ich mal gehen«, schlug er vor und stand auf. »Die Zeit, wissen Sie …«
Sofort sprang der Hochgewachsene auf. »Natürlich.«
»Auf Wiedersehen.«
»Ich habe die Ehre«, verabschiedete sich der Hochgewachsene. Der junge Mann ließ die Zeitung sinken und verbeugte sich.
Im Korridor riss Viktor als Erstes die Medaille herunter. Er verspürte den heftigen Wunsch, sie in einen Abfalleimer zu werfen, besann sich aber und steckte sie in die Tasche. Dann ging er hinunter in die Küche und ließ sich eine Flasche Gin geben. Auf dem Rückweg rief ihm der Portier zu: »Herr Banew, der Herr Bürgermeister hat angerufen. Sie waren nicht im Zimmer, und da …«
»Was wollte er denn?«, fragte Viktor mürrisch.
»Sie möchten sofort zurückrufen. Gehen Sie jetzt in Ihr Zimmer? Falls er noch mal anruft …«
»Der kann mich mal«, knurrte Viktor. »Ich stelle jetzt mein Telefon ab, und wenn er anruft, dann sagen Sie ihm: Herr Banew, Träger des ›Kleeblatts Stufe zwei‹, lässt Ihnen, Herr Bürgermeister, ausrichten, dass Sie sich zum Teufel scheren sollen.«
Er schloss sich in sein Zimmer ein, stellte das Telefon ab und legte – warum auch immer – noch ein Kissen darüber. Dann setzte er sich an den Tisch, goss Gin ein und leerte das Glas in einem Zug. Der Gin brannte in der Kehle und lief beißend die Speiseröhre hinunter. Dann griff Viktor nach dem Löffel und verschlang gedankenverloren den Rest der Erdbeeren mit Sahne. Es reicht, dachte er. Ich brauche weder eure Orden noch eure Honorare oder gar Almosen, weder eure Aufmerksamkeiten noch euren Hass oder eure Liebe. Lasst mich einfach in Ruhe, ich habe mit mir selbst genug zu tun, zieht mich nicht in eure Geschichten hinein. Er versenkte seinen Kopf in den Händen, um Pavors blasses Gesicht und die grauen, erbarmungslosen Gestalten in den Regenmänteln nicht mehr sehen zu müssen. Hinter euren ordenträchtigen Umarmungen stehen General Pferd, General Buttocks, General Arschmann und Sursmansor mit seinem zerfallenden Gesicht. Wenn ich doch nur wüsste, was das alles zu bedeuten hat …
Nach einem weiteren halben Glas Gin befand er sich plötz lich zusammengekrümmt in einem Schützengraben. Die Erde unter ihm drehte sich, ganze geologische Schichten, gigantische Granit-, Basalt- und Lavamassen schoben sich, vor Anspannung ächzend, übereinander, quollen, wölbten sich hoch und drückten ihn mit nach oben, immer höher, aus dem Schützengraben heraus, schoben ihn über die Brust wehr, die Zeiten aber waren hart, die Mächtigen hatten einen Anfall von Diensteifer, jemand hatte ihnen gesteckt, dass es hieß, sie arbeiteten schlecht, er aber hing nackt und bloß, die Hände vor die Augen gepresst und für alle sichtbar, über der Brustwehr. Läge ich doch am Grunde, dachte er. Läge ich doch ganz unten am Grunde, dass mich keiner hört oder sieht! Läge ich doch wie ein U-Boot am Grunde, und jemand soufflierte ihm: so dass mich keiner anpeilen kann … Ja, ja, läge ich doch wie ein U-Boot am Grunde, so dass mich keiner anpeilen kann. Und kein Lebenszeichen von mir geben würde ich. Denn ich bin nicht da. Ich schweige. Seht zu, wie ihr ohne mich klarkommt. Mein Gott, warum kann ich kein Zyniker sein? Läge ich doch wie ein U-Boot am Grunde, so dass mich keiner anpeilen kann. Läge ich doch wie ein U-Boot am Grunde, wiederholte er, nicht einmal Rufzeichen gäbe ich dann. Er spürte schon den Rhythmus, in dem, was er dachte, und es ging weiter wie von selbst: Satt hab ich alles, bis oben im Schlunde … Saufen und Schreiben – ich geh nicht mehr ran … Er goss sich nach und trank. Saufen und Schreiben – mir liegt nichts mehr dran … Saufen und Schreiben – ich find nichts mehr dran … Wo ist das Banjo?, überlegte er. Wo hab ich es nur hingesteckt? Er kroch unters Bett und zog das Banjo hervor. Ach, ihr könnt mich alle mal, dachte er, ach, wie mich jeder am Arsch lecken kann! Läge ich doch wie ein U-Boot am Grunde, so dass mich keiner anpeilen kann. Er strich rhythmisch über die Saiten, und in dem Rhythmus begannen Tisch, Zimmer und schließlich die ganze Welt zu stampfen und mit den Schultern zu zucken. Alle
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