Gesammelte Werke 6
sagte: »Mein Bengel war, wie es scheint, einer der Rädelsführer.«
»Nicht doch. Der Junge ist in Ordnung. Ein kluger Kopf und gut erzogen.«
»Er hat ja auch genügend Prügel gekriegt!«, sagte der Pförtner plötzlich wieder ganz munter. »Ich habe mich nicht geschont.« Und seine Miene verdüsterte sich wieder. »Die Nachbarn machen mir die Hölle heiß«, teilte er Viktor mit. »Aber was kann ich dafür? Ich habe doch überhaupt nichts davon gewusst.«
»Pfeifen Sie auf die Nachbarn«, riet ihm Viktor. »Die sind bloß neidisch. Sie haben einen guten Jungen. Ich zum Beispiel bin sehr froh, dass meine Tochter mit ihm befreundet ist.«
»Ha!« Der Pförtner lebte wieder auf. »Da werden wir wohl noch Verwandte?«
»Warum nicht«, meinte Viktor. »Ist durchaus möglich.« Er stellte sich Bol-Kunaz als Schwiegersohn vor. »Ja, durchaus.«
Sie scherzten und lachten noch eine Weile über diese Idee.
»Haben Sie gestern noch die Schießerei gehört?«, erkundigte sich der Pförtner anschließend.
»Nein.« Viktor horchte auf. »Was war denn los?«
»Das kam so«, begann der Pförtner. »Nachdem wir auseinandergegangen waren, versammelten sich ein paar Hitzköpfe, zerschnitten den Stacheldraht und stiegen dort ein. Dann hat man aus Maschinengewehren auf sie geschossen.«
»Unfassbar!«
»Ich selbst habe es nicht gesehen«, erklärte der Pförtner, »aber die Leute haben davon erzählt.« Er sah sich ängstlich nach allen Seiten um, winkte Viktor näher heran und flüsterte ihm ins Ohr:
»Unser Teddy war dabei und hat was abgekriegt. Aber er hat noch mal Glück gehabt. Er liegt jetzt zu Hause im Bett.«
»Der Ärmste«, murmelte Viktor bedrückt.
Er bewirtete auch den Portier mit Erdbeeren, ließ sich seinen Schlüssel geben und ging in sein Zimmer. Ohne sich auszuziehen, wählte er Teddys Nummer. Die Schwiegertochter teilte ihm mit, dass alles halb so schlimm sei, Teddy nur eine Fleischwunde davongetragen habe, auf dem Bauch liege, fluche und Wodka trinke. Sie selbst wolle heute ins Haus der Begegnung gehen, um ihren Sohn zu besuchen. Viktor bat, Teddy zu grüßen, versprach vorbeizukommen und legte auf. Nun hätte er noch Lola anrufen müssen, aber als er sich das Gespräch – ihre Vorwürfe und das Gezeter – vorstellte, ließ er es lieber bleiben. Er zog den Regenmantel aus, betrachtete die Erdbeeren, ging zur Küche hinunter und ließ sich eine Flasche Sahne geben. Zurückgekehrt, fand er Pavor vor.
»Guten Morgen«, begrüßte ihn Pavor und lächelte strahlend.
Viktor trat an den Tisch, schüttete die Erdbeeren in eine Schale, goss die Sahne darüber, bestreute sie mit Zucker und setzte sich.
»Guten Tag«, grüßte er finster zurück. »Was gibt’s?«
Er vermied es, Pavor anzusehen. Erstens war er ein Schwein, und zweitens war es, wie sich herausstellte, unangenehm, einen Menschen anzusehen, den man denunziert hatte – selbst wenn er ein Schwein war, selbst wenn man ihn in bester Absicht denunziert hatte.
»Hören Sie, Viktor«, sagte Pavor. »Ich bin bereit, mich zu entschuldigen. Wir haben uns beide dumm aufgeführt – ich besonders. Das kommt alles von dem Ärger, den ich im Dienst habe. Ich bitte Sie aufrichtig um Entschuldigung. Es wäre sehr schade, wenn wir uns wegen einer solchen Dumm heit zerstreiten würden.«
Viktor nahm einen Löffel zur Hand, rührte die Erdbeeren mit Sahne um und fing an zu essen.
»Was ich in letzter Zeit aber auch für ein Pech habe«, fuhr Pavor fort. »Ich könnte die ganze Welt verfluchen. Und keinerlei Mitgefühl, keine Unterstützung. Der Bürgermeister, dieses Rindvieh, hat mich da in eine schmutzige Geschichte hineingezogen …«
»Herr Summan«, antwortete Viktor. »Spielen Sie nicht den dummen August. Das gelingt Ihnen zwar ganz gut, aber zum Glück habe ich Sie durchschaut, und es macht mir nicht den geringsten Spaß, Ihr schauspielerisches Talent zu begutachten. Verderben Sie mir bitte nicht den Appetit, und gehen Sie.«
»Viktor«, sagte Pavor vorwurfsvoll. »Wir sind doch er wachsene Menschen. Man kann das, was man bei einem Gläs chen schwatzt, doch nicht so ernst nehmen. Dachten Sie vielleicht, ich glaube den Unsinn, den ich da verzapft habe? Migräne, Ärger, Schnupfen … Was verlangen Sie von einem Menschen?«
»Ich verlange, dass er mich nicht von hinten mit dem Schlag ring überfällt«, erklärte Viktor. »Und wenn er’s doch tut – es mag ja Umstände geben –, dann soll er hinterher wenigstens nicht den guten Kumpel
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