Gesammelte Werke 6
ich nicht selbst davon, die Blaue Mappe so aufzubewahren, dass kein Bryshejkin oder Gagaschkin seine verschwitzte, neugierige Nase hineinstecken kann? Übrigens, so eine verschwitzte, neugierige Nase ist nun doch etwas anderes! Bryshejkin und Gagaschkin sind eins – den Lesern aber muss man Gerechtigkeit widerfahren lassen. Ich betreibe keine Onanie, zum Teufel, und schreibe nicht zur Selbstbefriedigung, sondern für die Menschen. Natürlich, ich wusste von Anfang an, dass die Blaue Mappe nicht zu meinen Lebzeiten gedruckt würde. Das kennt man, ich wäre nicht der Erste und nicht der Letzte. Aber der Gedanke, dass sie einfach von der Bildfläche verschwindet, in den Abgrund fällt, sich in Nichts auflöst … Nein, dazu bin ich nicht bereit. Dumm von mir, ich weiß. Aber das will ich nicht, und deshalb fürchte ich mich!
Ich wusch mich, machte das Bett und bereitete mir mein Frühstück. Doch die Gedanken wurde ich nicht los. Es war erst halb sieben, und trotzdem hätte ich jetzt weder schlafen noch weiter im Bett liegen können. Ich wurde geradezu geschüttelt von Nervosität und hatte den Wunsch, sofort etwas zu tun oder wenigstens einen Entschluss zu fassen.
Was hatte man uns einzureden versucht, Manuskripte würden nicht brennen! Sie brannten. Und wie sie brannten, mit blauer Flamme! Allein die Vorstellung, wie viele von ihnen verschwanden, ehe sie gedruckt werden konnten, war fürchterlich … Dieses Schicksal wünsche ich meinem Werk nicht! Und wenn es so käme, würde ich es nicht vorher wissen wollen. Nicht ohne Grund hatte mein unfroher Bekannter gestern so durch die Blume gesprochen – er hätte ja auch geradeheraus sagen können, was los war. Aber wahrscheinlich meinte er, dass Gott, falls ich nicht von selbst daraufkäme, mir meine Dummheit schon verzeihen würde; erriete ich es aber, bliebe mir sowieso kein anderer Ausweg: Dann musste ich kommen, die Mappe bringen und es erfahren …
Und ohne, dass ich es bemerkte, saß ich auf einmal an meinem Tisch, mit der aufgeschlagenen Blauen Mappe vor mir. Meine Finger nahmen wie von selbst Blatt für Blatt, legten es behutsam von rechts nach links, glätteten es und richteten von Zeit zu Zeit das umfängliche Stapelchen. Bitter wurde mir bei dem Gedanken, dass ich gestern noch, spätabends, die letzte geschriebene Zeile gelesen hatte. Wie gut wäre es doch, gerade heute, in dieser Minute der Unsicherheit und Panik, da ich am Scheideweg stehe, die allerletzte, mir noch unbekannte und ungeschriebene Zeile zu lesen – und darunter das Wort »Ende«. Dann könnte ich jetzt leichten Herzens sagen: »Alles graue Theorie, meine Herren, sehen Sie sich das hier einmal an!« Und ich würde die Blaue Mappe auf meinen gespreizten fünf Fingern wiegen.
So heftig wurde der Wunsch, diesem ersehnten Moment wenigstens ein bisschen näher zu kommen, dass ich rasch den Deckel der Schreibmaschine abnahm, ein neues Blatt einspannte und drauflostippte: »Es war Viertel vor drei. Viktor stand auf und öffnete das Fenster. Draußen war es stockfinster. Er rauchte die Zigarette zu Ende, warf die Kippe in die Nacht hinaus und rief den Portier an. Eine unbekannte Stimme meldete sich.«
Ich nahm die Hände von der Maschine und kratzte mich am Kinn. Es war wie immer: Wenn ich versuche, meine Arbeit im Sturm zu nehmen, mit purem Enthusiasmus und einer Eingebung folgend, gerät alles ins Stocken.
In der folgenden halben Stunde fügte ich handschriftlich das Wort »feuchte« ein und ergänzte nach »stockfinster«: »nur der Regen glitzerte«. Nein, so würde daraus keine ernsthafte Arbeit … Ernsthaft arbeitete man beispielsweise im Schriftstellerheim in Muraschi. Vorher musste man sein Herz in beide Hände nehmen, sich von allem Nichtigen frei machen und jede Möglichkeit, die Arbeit abzubrechen, ausschließen. Man musste sich immer wieder vor Augen führen, dass der Aufenthalt für die volle Dauer bezahlt war und das Geld unter keinen Umständen zurückerstattet wurde. Und keinerlei Inspiration – nur die tägliche, akribische Sklavenarbeit bis zur Erschöpfung. Wie eine Maschine oder ein Pferd. Fünf Seiten vormittags, zwei vor dem Abendessen. Oder vier Seiten vormittags und drei vor dem Abendessen. Keinen Kognak. Kein Geschwätz. Keine Verabredungen, Sitzungen oder Telefonate. Keine Skandale oder Jubiläen. Sieben Seiten pro Tag, und nach dem Abendbrot konnte man sich ins Billardzimmer setzen und träge mit ein paar bekannten oder halb bekannten Kollegen plaudern. Wenn man
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