Gesammelte Werke 6
die höhere Mathematik und die sphärische Trigonometrie in Angriff, bastelte mit Sascha Aronow (verhungert im Januar 1942) aus Leibeskräften Fernrohre, arbeitete in den Werkstätten des Hauses für Wissenschaftsspiele und Experimente mit und bewältigte die Schule mit Leichtigkeit. Auch sein platonisches Verhältnis mit Ljusja Newerowskaja dauerte an, und nach der Neujahrsfeier begann er noch einen Flirt mit Nina Chaljajewa (während der Evakuierung verschollen); daneben gab es allerlei weitere Dummheiten und Eskapaden. F. Sorokin engagierte sich in der Schule, in der Wissenschaft, in seinen gesellschaftlichen und privaten Beziehungen, und er erwähnte kein einziges Mal, unter keinen Umständen, nirgends und niemandem gegenüber auch nur andeutungsweise Katja.
Es war wohl kaum nur das Sexuelle, das sie verband, denn das hätte, wäre es auch noch so leidenschaftlich gewesen, nicht so lange andauern und derart intensiv sein können, mit all den Anfällen von Sehnsucht, Freude und Furcht. Aber ebenso wenig handelte es sich um eine romantische Liebe, wie die Großen sie beschrieben haben. Am ehesten war es von allem etwas – noch dazu der jungenhafte Stolz, eine Frau zu besitzen, und die dankbare Zärtlichkeit des Mädchens, dass ein Mann ihre Gefühle nicht verletzte und nicht großtat. Womöglich war da auch noch eine Vorahnung.
Zum letzten Mal trafen sie sich Ende Mai, als die Prüfungen begannen.
Mitte Juli kehrte F. Sorokin vom Bau eines Flugplatzes bei Kingisepp zurück – als Erwachsener, denn er hatte unterdessen einen Menschen getötet, einen Feind, einen Faschisten, und er war sehr stolz darauf. Über Umwege brachte er in Erfahrung, dass Katja eine Woche zuvor mit ihren Kommilitonen in die Gegend von Gatschina oder Pskow gefahren war, um dort Panzerfallen aufzustellen. Und Ende Juli schrieb man der Hausverwaltung, Katja sei bei einem Bombenangriff ums Leben gekommen …
Schwäche. Alles kommt von dieser Schwäche. Heute bin ich irgendwie so matt. Warum verbiete ich mir immer so sehr, daran zu denken? An ihren Namen erinnere ich mich oft. Katja, Katja. Aber nur an den Namen. Wahrscheinlich, weil ich später nie wieder geliebt habe. F. Sorokin hatte seit dieser Zeit zwar viele Weiber, außerdem zwei oder drei Frauen – doch keine einzige Liebe.
Das Telefon schrillte, und ich schleppte mich zurück ins Arbeitszimmer. Es war Rita, endlich und zur rechten Zeit.
Soeben aus ihrer Einöde zurück, wünschte sie den Umgang mit einem intelligenten Menschen aus der literarischen Welt. Ihre Stimme klang klar, froh und munter, und das war herrlich. Ich wollte sie sofort sehen und fragte, wie es heute bei ihr aussehe. Sie antwortete, sie sei jetzt in ihrem Büro und müsse dort noch ein wenig bleiben, aber gegen Mittag könne sie gehen. Ich brach in Jubel aus, und wir verabredeten, uns Punkt fünfzehn Uhr bei mir im Klub zu treffen und uns gastronomischen Genüssen hinzugeben. Fürs Erste, sagte ich geschäftig. Wir werden sehen, antwortete sie noch geschäftiger.
Wie zu erwarten, veränderte das Gespräch meine Sicht auf die Dinge gründlich. Die zuvor feindliche Umgebung wurde freundlich, die Realität verlor ihre Düsternis und erstrahlte in allen nur denkbaren Nuancen von Rosa bis Himmelblau. Selbst das Wetter hellte auf, und der grimmige Schneesturm verwandelte sich in einen leichten, fast festlichen Flockentanz. Alles Finstere, was mich in den letzten Tagen bedrängt hatte; all die unangenehmen und seltsamen Begegnungen, ängstigenden Gespräche und Andeutungen; die bis vor Kurzem abstrakten, nun aber Fleisch und Blut gewordenen Probleme – diese ganze Hoffnungslosigkeit, die mich wie ein unheildrohender Zaun umschlossen hielt, teilte sich jäh, wich zurück, und vor mir wurde alles smaragdgrün, sonnenhell und samtig blau. Über allem flimmerten kess die Worte: »Wir schaffen es!« Und meine Seite tat fast gar nicht mehr weh …
Was bläst Trübsal du so arg, junger Mann?
Leg dich lieber in den Sarg, junger Mann!
Als Erstes begab ich mich ins Bad und rasierte mich auf das Sorgfältigste – Rita kann selbst die Andeutung von Bartstoppeln nicht ausstehen. Danach fuhr ich mit einem feuchten Läppchen über alle Tische und Schränke – Rita erträgt keinen Staub auf polierten Oberflächen. Ich wechselte die Bettwäsche – Rita und ich mögen nur frische, raschelnde und gestärkte Laken. Ich polierte sorgfältig Wein- und Schnaps gläser, wobei ich sie sogar gegen das Licht prüfte, ich putzte Messer,
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