Gesammelte Werke 6
standhaft blieb und sich, Gott behüte!, nicht bemitleidete und ausrief: »Ich habe doch wohl das Recht, wenigstens einmal in der Woche …« – dann kehrte man nach sechsundzwanzig Tagen wie ein erfolgreicher Jäger nach Hause zurück, fröhlich und mit gefüllter Tasche, auch wenn man vor Müdigkeit weder Arme noch Beine spürte … Aber ich hatte mir noch nicht einmal überlegt, was in meiner Jagdtasche sein sollte!
Um genau acht Uhr dreißig klingelte das Telefon, aber es war nicht Lenja Fips. Weiß der Teufel, wer das war: Der Hörer atmete, der Hörer lauschte aufmerksam meinem gereizten »Hallo, wer ist da? Drücken Sie auf den Knopf!«, und schon ertönten die kurzen Rufzeichen.
Ich legte den Hörer auf, zog angewidert das Blatt aus der Maschine, schob es zuunterst in die Mappe und deckte die Maschine ab. Es wurde hell, draußen hatte der Schneesturm wieder eingesetzt, ich spürte den heftigen Schmerz in der Seite und legte mich hin. Ich war eben doch ein Choleriker: Gerade erst hatte es mich geschüttelt vor Erregung; ich hatte geglaubt, es existiere nichts Wichtigeres auf der Welt als meine Blaue Mappe und ihr zukünftiges Schicksal, und jetzt lag ich da wie ein platt getretener Froschund wollte nichts Ewiges außer Ruhe.
Die Seite schmerzte; mich überkam eine ungewohnte Schwä che, gefolgt von bohrendem Selbstmitleid, und ich versank in Erinnerungen, denen ich mich willenlos hingab – wie bei einer Ohnmacht, wenn die Kräfte nicht mehr reichen, um etwas noch länger zu ertragen …
… Sie wohnte damals in einem winzigen Zimmerchen in Wohnung 19; Gott weiß, wie sie zu dem Zimmer gekommen war. Sie studierte im ersten Semester am Polytechnischen Institut und war etwa neunzehn Jahre alt. Ihr Name war Katja, den Familiennamen wusste F. Sorokin nicht, und er würde ihn auch nie erfahren. Jedenfalls nicht in diesem Leben.
F. Sorokin war gerade fünfzehn, besuchte die neunte Klasse und war ein hochaufgeschossenes, hübsches Bürschchen, wenn auch seine Ohren ziemlich abstanden. In der Turnreihe stand er als Dritter, hinter Wolodja Prawdjuk (1943 gefallen) und Wolodja Zinger (heute ein hohes Tier in der Flugzeugindustrie). Katja war, als er sie kennenlernte, ungefähr so groß wie er. Als jene, die alle Bindungen löst, sie wieder trennte, überragte F. Sorokin sie bereits um einen halben Kopf.
Er hatte sie schon vor ihrer Bekanntschaft einige Male getroffen, im Treppenhaus oder bei Anastassia Andrejewna, doch dabei hatte er weder an Intimitäten noch an seine Männlichkeit gedacht. Er war zu jener Zeit noch eine Rotznase, ein Hanswurst – dieser hochaufgeschossene, hübsche Bursche F. Sorokin. Die Distanz zwischen einer Studentin und einem Schüler war ihm unerhört groß erschienen; das bedrückende, ergebnislose Einander-Abtasten mit Ljusja Newerowskaja (heute Admiralswitwe, Rentnerin und wohl auch schon Urgroßmutter) hatte eine unüberwindliche Barriere zwischen dem Ziel seines Verlangens und allen übrigen Busen und Schenkeln der Welt errichtet. Überhaupt hatte die statthafte Entleerung der Hoden eine unabdingbare Voraussetzung: zunächst in das feindliche Lager vorzudringen, Hitler und Mussolini den Garaus zu machen oder sie lebend zu fassen (von Tojo wusste F. Sorokin damals noch nichts) und ihre Köpfe der Angebeteten zu Füßen zu legen.
Sicher hätte ein Psychologe eine Erklärung dafür gefunden, warum die kleine Studentin Katja ihr Auge auf einen Schüler warf. Gewöhnlich ziehen fünfzehnjährige Adoleszenten vor allem ältere Damen an – aber was verstehe ich schon von Psychologie … Allerdings: Würde einer behaupten wollen, die Liebesbeziehung zwischen Katja und F. Sorokin sei eine Ausnahme gewesen? F. Sorokin besäße diese Kühnheit nicht. (Er ist aber auch voreingenommen.) Später, nach zwei oder drei Monaten, bekannte Katja ihm gegenüber ruhig und in schlichten Worten, dass sie sich auf den ersten Blick in ihn verliebt hatte, bei ihrer ersten zufälligen Begegnung auf der Treppe oder im Hauseingang. Vielleicht war es gelogen, aber es schmeichelte Sorokin.
Hier ist vielleicht noch folgender Umstand von Bedeutung: Etwa eineinhalb Jahre vor ihrer Bekanntschaft hatte Katja etwas sehr Unangenehmes erlebt. Sie besuchte damals die zehnte Klasse in einer Kleinstadt bei Leningrad (Kolpino, Pawlowsk oder Tosno). Einmal, als sie nach dem Unterricht noch in der Klasse blieb, um sauber zu machen, kamen ein paar ihrer Mitschüler herein, packten sie, wickelten ihr Jacken um den Kopf und
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