Gesammelte Werke 6
von zwei älteren Frauen herein, sie traten, lautlos miteinander sprechend, an den Schrank, öffneten ihn ebenso lautlos und legten lautlos eingestaubte Zeitschriftenmappen auf den Tisch, in denen sie dann lautlos blätterten.
Und was merkwürdig war: Sie schienen uns nicht zu bemerken, sahen kein einziges Mal in unsere Richtung, als wären wir gar nicht da.
Und in dieser Stille erhob nun Michail Afanassjewitsch seine etwas dumpfe, aber angenehme Stimme. Er redete nicht und erzählte nicht, sondern er las aus einem unsichtbaren Buch: »Die Stadt starrte sie mit leeren Fenstern an. Eine merkwürdige Stadt: verschimmelt, glitschig, morsch, wie von einem bösartigen Ekzem zerfressen, als hätte sie jahrelang auf dem Meeresgrund gelegen und wäre nun, der Sonne zum Gespött, emporgetaucht, und die Sonne schicke sich lachend an, sie zu zerstören.
Die Dächer schmolzen dahin, das rostige Blech und die Dachziegel verdampften. In den Mauern klafften Risse, die sich ausweiteten und den Blicken schäbige Tapeten freigaben, auseinanderfallende Betten, wacklige Möbel und verblichene Fotografien. Die Straßenlaternen sanken kraftlos um, Kioske und Anschlagsäulen lösten sich in Luft auf – alles ringsum knisterte, zischte und raschelte, wurde porös und durchsichtig, verwandelte sich in ein Häufchen Staub und verschwand.«
Michail Afanassjewitsch verstummte, lehnte sich im Sofa zurück und schloss die Augen. Aber ich wusste bereits, was er da gelesen hatte und warum es mir so vertraut vorkam. Es war noch nicht der eigentliche Schluss, waren nicht die letzten Zeilen, doch jetzt kannte ich mein letztes Bild, und ich kannte meine letzte Zeile, auf die nichts mehr folgen würde als das Wort »Ende« und, vielleicht, das Datum.
Das ganze Klubrestaurant konnte sehen, wie Felix Sorokin, der bekannte Verfasser patriotischer Kriegsliteratur, ein hoch gewachsener, kräftiger und gut aussehender Mann mit üppigem schwarzem Schnauzbart und silbergrauen Haaren, auf dem Revers eine funkelnde Anstecknadel des verliehenen Literaturpreises, zwischen den Tischreihen hindurch auf eine schöne Frau in elegantem, sandfarbenem Kostüm zuging und ihr die Hand küsste. Und das ganze Restaurant hörte, wie er, an den Kellner Mischa gewandt, sagte: »Fleisch! Irgendeins! Nur kein Hundefleisch. Von Hund habe ich genug, Mischa!«
Die Hälfte des Saales überhörte die seltsamen Worte, die andere Hälfte hielt sie für einen schlechten Scherz, und Apollon Apollonowitsch brabbelte, seinen Schildkrötenkopf hin und her wiegend: »Merkwürdig … Wann hat er sich nur so betrunken …«
Felix Sorokin dachte gar nicht daran zu scherzen. Er hatte sich auch keineswegs betrunken – das stand ihm noch bevor. Er war einfach so unverschämt und ungewohnt glücklich und wusste selbst nicht recht, warum.
10
Banew | Exodus
Ein Jahr nach dem Krieg wird Oberleutnant B. wegen einer Verwundung demobilisiert. Man hängt ihm die »Siegesmedaille« um, zahlt ihm die Dienstbezüge für einen Monat aus und überreicht ihm einen Pappkarton mit Geschenken des Herrn Präsidenten: eine Flasche Beuteschnaps, zwei Dosen Straßburger Pastete, zwei Ringe geräucherte Pferdewurst und ein Paar ebenfalls aus dem Beutegut stammende Seidenhöschen für den Start ins Eheglück. In die Hauptstadt zurückgekehrt, verzagt der Oberleutnant nicht. Er ist ein guter Mechaniker, und die Universitätswerkstätten, aus denen er sich als Freiwilliger gemeldet hatte, würden ihn jederzeit wieder einstellen. Er aber hat es nicht eilig: frischt alte Bekanntschaften auf, schließt neue und vertrinkt in der Zwischenzeit den beim Feind beschlagnahmten Plunder. Auf einer Abendgesellschaft begegnet er einer Frau namens Nora, die große Ähnlichkeit mit Diana hat. Beschreibung der Abendgesellschaft: zerkratzte Schallplatten aus der Zeit vor dem Krieg, selbstgebrannter, vergällter Alkohol, amerikanisches Büchsenfleisch, Seidenblusen auf dem nackten Leib und Mohrrüben in jeder Form. Der Oberleutnant vertreibt mit seinen klimpernden Medaillen sogleich die Zivilisten, die Nora unaufhörlich mit gekochten Mohrrüben bewirten, und beginnt eine regelrechte Belagerung. Nora benimmt sich merkwürdig. Einerseits ist sie nicht abgeneigt, andererseits gibt sie ihm zu verstehen, dass es gefährlich ist, sich mit ihr einzulassen. Aber der Oberleutnant a. D., dem der vergällte Alkohol zu Kopf gestiegen ist, will nichts davon wissen. Sie verlassen die Abendgesellschaft und gehen zu ihr. Die
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