Gesammelte Werke 6
gleichzeitig verblüfft, dass keiner unserer Schwätzer ihn in diesen drei Monaten erkannt hatte. Auch ich war nicht gleich daraufgekommen, dort, in der Bannaja.
»Felix Alexandrowitsch«, sagte er schließlich. »Ich sehe, Sie halten mich für jemand anderen. Ich ahne sogar, für wen …«
»Erlauben Sie!«, rief ich hitzig, weil sein Versuch, mir aus zuweichen, mich enttäuschte, ja sogar beleidigte. »Sie werden doch nicht leugnen wollen …«
»Doch, genau das will ich!« Er beugte sich zu mir herüber. »Ich heiße tatsächlich Michail Afanassjewitsch, und man sagt, ich sei ihm wirklich ähnlich, aber urteilen Sie selbst: Wie könnte ich er sein? Die Toten sind für immer tot, Felix Alexandrowitsch.Das ist ebenso sicher wie die Tatsache, dass Manuskripte restlos verbrennen – auch wenn Er noch so oft das Gegenteil behauptet hat.«
Ich spürte, wie mir der Schweiß über das Gesicht rann. Hastig holte ich mein Taschentuch hervor und trocknete mich ab. In meinem Kopf drehte sich alles, die Ohren klangen; offenbar war der Blutdruck stark nach oben geschnellt, und ich fühlte mich wieder wie im Traum.
»Kommen wir endlich zur Sache«, fuhr er fort, zog seinen Finger aus der Zeitschrift und legte sie neben sich auf das Sofa. »Wie zu erwarten war, haben Sie ganz richtig erraten, dass mein Rechner nicht den absoluten künstlerischen Wert eines Werkes bestimmt, sondern lediglich sein Schicksal in einem historisch überschaubaren Zeitraum.«
Ich nickte und wischte mir wieder und wieder den Schweiß aus den Augen.
»Als Ihnen das bewusst wurde, standen Sie vor der Frage, ob sich das Risiko lohne, mir Ihre Blaue Mappe zur Analyse vorzulegen.«
Wieder nickte ich.
»Versuchen wir jetzt herauszufinden, was Sie, Felix Alexandrowitsch, fürchten und worauf Sie hoffen. Natürlich fürchten Sie, mein Rechner könnte all Ihre Mühen mit einer miserablen Ziffer bewerten, so als hätten Sie ihr nicht Ihr Lebenswerk anvertraut, sondern eine schlechte Rezension, die Sie widerwillig geschrieben haben, um sich die Sache vom Halse zu schaffen … oder weil Sie Geld brauchten. Dagegen hoffen Sie, Felix Alexandrowitsch, dass ein Wunder geschieht, dass mein Rechner Sie mit einer sechsstelligen oder sogar siebenstelligen Zahl belohnt, als würden Sie tatsächlich der Welt eine neue Apokalypse verkünden, die von selbst über alle Schranken hinweg zum Leser vordringt. Sie wissen jedoch sehr gut, Felix Alexandrowitsch, dass die Wunder, die sich in unserer Welt ereignen, stets unerfreulich sind, und demzufolge haben Sie im Grunde genommen nichts zu erhoffen. Was aber Ihre Befürchtungen anbelangt: Haben Sie nicht selbst ganz bewusst die Blaue Mappe zur Bestattung in die Tiefen Ihres Schreibtischs verdammt – und zwar von vornherein? Sie begraben, noch bevor sie ganz geboren war? Können Sie mir folgen?«
Ich nickte.
»Ist Ihnen klar, dass ich nur Ihre eigenen Gedanken in Worte fasse?«
Ich nickte wieder und sagte mit heiserer Stimme, die mir für einen Moment ganz fremd schien: »Sie vergessen eine dritte Möglichkeit …«
»Nein, Felix Alexandrowitsch! Ich vergesse sie nicht. Ihre kindische Drohung mit dem Feuer errate ich. Und um Sie für diese Drohung zu bestrafen, erzähle ich Ihnen jetzt von einer vierten Möglichkeit, die so beschämend und unwürdig ist, dass Sie nicht einmal wagen, sie in Ihr Bewusstsein dringen zu lassen; die Angst davor ist irgendwo in Ihnen versteckt, eine nackte, uralte und stinkende Angst … Soll ich davon erzählen?«
Das Vorgefühl dieser versteckten, stinkenden Angst durch bohrte mich wie ein Krampf im Herzen, mir stockte sogar der Atem. Doch andererseits war ich sicher, dass er nichts sagen konnte, was ich mir nicht schon selbst überlegt und dreiunddreißigmal durchlitten hatte. Ich biss also die Zähne zusammen und antwortete durch das gegen den Mund ge drückte Taschentuch: »Es wäre interessant, das zu erfahren …«
Und er begann …
Ich schwöre bei meiner Ehre, beim Leben meiner Tochter Katja und beim Leben meiner Enkel: Ich hatte nicht gewusst, mir auch nicht vorstellen können, was er mir da von mir erzählte! Und das war besonders schimpflich und erniedrigend, weil diese vierte Möglichkeit so offensichtlich war, so banal und so auf der Hand lag – jeder normale Mensch hätte sie als erste genannt … Für den Allunionsdrops ist sie überhaupt die einzige, andere kennt er nicht. Nur jemand wie ich, der sich grundlos allerlei einbildet und vor Hochmut so aufgeblasen ist, dass er
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