Gesammelte Werke 6
Nachkriegshauptstadt bei Nacht: wenige Laternen, auf der Fahrbahn Schlagloch an Schlagloch, eingezäunte Ruinen, ein halb fertiger Zirkusbau, in dem sechstausend Gefangene unter der Aufsicht von zwei Invaliden hausen, ein Raubüberfall in einer stockdunklen Gasse. Nora wohnt in einem alten dreistöckigen Haus, die Treppe starrt vor Schmutz, an einer Tür eine Kreideaufschrift: »Hier wohnt ein deutscher Schäferhund«. In dem langen, mit Gerümpel vollgestellten Korridor drücken sich ein paar dunkle Gestalten herum. Nora öffnet, mit zahlreichen Schlüsseln klappernd, ihre Tür, die mit glänzendem, wie durch ein Wunder heilgebliebenem Leder bespannt ist. Im Vorraum warnt sie ihn noch einmal vor der Gefahr, aber B., der nur von krummen Geschäften ausgeht, antwortet, er sei in Kavallerieformation gegen Panzer vorgegangen. Die kleine Wohnung ist ungewöhnlich sauber und gemütlich, das Sofa riesig. Nora wirft dem Oberleutnant einen bedauernden Blick zu, geht kurz hinaus und kehrt mit einer angebrochenen Flasche Kognak und in sehr verführerischer Aufmachung zurück. Wie sich herausstellt, haben sie nur eine halbe Stunde Zeit. Als diese vorüber ist, verlässt sie der Oberleutnant zufrieden und in der Hoffnung auf ein Wiedersehen. Am Ende des Korridors aber wird er erwartet: Zwei dunkle Gestalten stellen sich ihm, höhnisch grinsend, in den Weg und wollen mit ihm reden. Der Oberleutnant lässt ohne langes Fackeln seine Fäuste sprechen und erringt einen unerwartet leichten Sieg. Die am Boden liegenden dunklen Gestalten heulen und kichern zugleich und machen dem Oberleutnant klar, in welcher Lage er sich befindet: Er hat seine eigenen Leute geschlagen. Sie gehören jetzt alle zu ihm. Nora ist nicht nur eine verführerische Frau, sondern auch die Königin aller hauptstädtischen Wanzen. Und mit dem Herrn Offizier ist’s jetzt vorbei: Wir treffen uns im »Atakan«, dort kommen wir jede Nacht zusammen … Gehen Sie nach Hause, und wenn Sie’s dort nicht länger aushalten, kommen Sie zu uns, wir haben bis zum Morgen geöffnet …
In einem schönen Haus am westlichen Stadtrand, unmittelbar neben einer Chemiefabrik, wohnt der kinderreiche Titularrat B. Eine bewusst ausführliche und langweilige Beschreibung seiner Lebensumstände: drei Zimmer, Küche, Diele; die Frau – ein Wrack; fünf grüngesichtige Kinder und eine rüstige alte Schwiegermutter, die aus dem Dorf zu ihnen gezogen ist. Die Chemiefabrik stinkt, Tag und Nacht stehen farbige Rauchsäulen über ihr, der giftige Rauch lässt die Bäume verkümmern, das Gras welken und die Fliegen auf unheimliche Art mutieren. Seit Jahren setzt sich der Titularrat für die Schließung der Fabrik ein: Er richtet zornige Forderungen an die Stadtverwaltung, sendet wehklagende Petitionen an alle Instanzen, schickt vernichtende Glossen an alle Zeitungen und versucht vergeblich, am Fabriktor Mahnwachen zu organisieren. Die Fabrik aber steht wie eine Bastion. Auf der Uferstraße davor fallen vergiftete Wachmänner um, Haustiere gehen ein, ganze Familien geben ihre Wohnungen auf und werden zu Obdachlosen, in den Zeitungen erscheint ein Nachruf auf den viel zu früh verschiedenen Fabrikdirektor. Die Frau des Titularrats B. stirbt, die Kinder erkranken der Reihe nach an Bronchialasthma. Als der Titularrat eines Abends Holz aus dem Keller holt, entdeckt er einen noch aus der Zeit des Widerstands stammenden Granatwerfer sowie einen großen Vorrat an Granaten. Noch in derselben Nacht schleppt er alles auf den Dachboden und öffnet die Luke. Die Fabrik liegt vor ihm wie auf einem Präsentierteller: in grellem Scheinwerferlicht arbeiten Menschen, rollen Loren, hängen gelbe und grüne Giftschwaden. Ich mach dich kalt, flüstert der Titularrat und eröffnet das Feuer. An diesem Tag geht er nicht zum Dienst, am nächsten Tag auch nicht. Er schläft nicht mehr, und er isst nicht mehr, er hockt vor der Dachluke und schießt. Von Zeit zu Zeit legt er eine Pause ein, damit sich das Granatwerferrohr abkühlt. Er ist taub von den Schüssen und blind vom Pulverrauch. Manchmal kommt es ihm so vor, als würde der Chemiegestank schwächer. Dann lächelt er, beleckt sich die Lippen und flüstert: »Ich mach dich kalt.« Irgendwann sinkt er entkräftet um und schläft ein, und als er aufwacht, sieht er, dass er keine Granaten mehr hat – nur drei Stück sind noch übrig. Er feuert sie ab und lehnt sich aus der Dachluke. Der geräumige Fabrikhof ist mit Granattrichtern übersät, ausgeschlagene Fenster
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