Gesammelte Werke
elegante Haube aus Schleiergaze mehr gehoben als verborgen; ich musste an den »ventum textilem« des Apulejus denken. Der rechte Arm ruhte auf der Logenbrüstung und ließ in seiner vollendeten Harmonie jeden Nerv in mir erbeben. Sein oberer Teil war von einem der jetzt üblichen, weiten offenen Ärmel verhüllt. Er reichte noch ein wenig über den Ellbogen herab. Darunter kam ein anliegender Unterärmel aus irgendeinem zarten Gewebe zum Vorschein und endete in einer reichen Spitzenmanschette, die anmutig über den Handrücken fiel und nur die feinen Finger enthüllte, auf deren einem ein Diamantring blitzte, den ich sofort als außerordentlich wertvoll erkannte. Die herrliche Rundung des Handgelenks wurde von einem Armband vorteilhaft gehoben, das ebenfalls mit Edelsteinen geschmückt war – eine nicht zu missdeutende Sprache für die Wohlhabenheit und den erlesenen Geschmack ihrer Trägerin.
Ich blickte zu dieser königlichen Erscheinung wohl eine halbe Stunde hinüber, als sei ich plötzlich in Stein verwandelt, und während der Zeit fühlte ich die volle Kraft und Wahrheit alles dessen, was über »die Liebe auf den ersten Blick« gesagt und gesungen worden ist. Meine Empfindungen waren völlig anders als die, von denen ich bisher selbst in Gegenwart der berühmtesten Vertreterinnen weiblichen Liebreizes ergriffen worden war. Eine unerklärliche und, wie ich annehmen muss, magnetische Seelenneigung schien nicht nur meine Blicke, sondern alle meine Fähigkeit zum Denken und Fühlen an den verehrungswürdigen Gegenstand dort vor mir zu bannen. Ich sah – ich fühlte – ich wusste, dass ich tief, toll, unwiderstehlich verliebt war – und das, noch ehe ich nur das Antlitz des geliebten Wesens erblickt hatte. Wahrhaftig, die Leidenschaft, die mich verzehrte, war so stark, dass ich wirklich glaube, sie würde wenig oder gar nicht nachgelassen haben, selbst wenn die bis jetzt noch unbekannten Gesichtszüge sich nicht über den Durchschnitt erhoben hätten; so ungewöhnlich ist die einzig wahre Liebe – die Liebe auf den ersten Blick – und auch so wenig abhängig von den äußeren Bedingungen, die allein sie hervorzurufen und anzutreiben scheinen.
Während ich so in Bewunderung und Schauen vertieft saß, wurde die Dame durch eine plötzliche Störung im Publikum veranlasst, den Kopf halb mir zuzuwenden, so dass ich nun das ganze Profil erblicken konnte. Seine Schönheit übertraf noch meine Ahnungen, und dennoch war etwas daran, was mich enttäuschte, ohne dass ich genau sagen konnte, was es war. Ich sagte »enttäuschte«, aber dies ist nicht das rechte Wort. Meine Empfindungen wurden gleichzeitig beruhigt und angestachelt. Sie erlitten Einbuße, was Verzückung anbelangt, und gewannen an stiller Begeisterung – an begeisterter Ruhe. Dieser Empfindungswechsel kam vielleicht von dem madonnenhaften, mütterlichen Ausdruck des Gesichtes, und dennoch wusste ich sofort, dass er nicht ausschließlich daher kommen konnte. Da war noch etwas anderes, ein Geheimnis, das ich nicht aufzudecken vermochte, ein besonderer Zug im Gesicht, der mich ein wenig störte, während er gleichzeitig mein Interesse aufs Höchste reizte. Tatsache ist, dass ich mich gerade in der Seelenverfassung befand, in der ein empfänglicher junger Mann jeder außergewöhnlichen Tat fähig ist. Wäre die Dame allein gewesen, so hätte ich zweifellos ihre Loge betreten und sie auf gut Glück angeredet; glücklicherweise hatte sie zwei Begleiter bei sich: einen Herrn und eine auffallend schöne Frau, offenbar einige Jahre jünger als sie selbst.
Ich wälzte tausend Pläne im Geiste herum, wie ich mich wohl der älteren der beiden Damen vorstellen oder wenigstens jetzt ihre Schönheit aus der Nähe bewundern könnte. Ich würde meinen Platz möglichst in ihre Nähe verlegt haben, doch die Tatsache, dass das Theater voll besetzt war, machte das unmöglich, und die strengen Anstandsregeln der Mode hatten seit Kurzem die Benutzung des Opernglases in einem solchen Falle gebieterisch untersagt, selbst wenn ich so glücklich gewesen wäre, eines bei mir zu haben; das war aber nicht der Fall, und ich geriet daher in Verzweiflung.
Endlich beschloss ich, mich an meinen Begleiter zu wenden.
»Talbot«, sagte ich, »du hast ein Opernglas. Gib es mir.«
»Ein Opernglas? – Nein! – Was sollte ich denn wohl mit einem Opernglas?« Damit wandte er sich ungeduldig zur Bühne.
»Aber, Talbot«, fuhr ich fort und zog ihn an der Schulter, »höre mal, willst du?
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