Gesammelte Werke
ihm.
»Fort«, sagte der Lakai – Talbots Kammerdiener.
»Fort?«, erwiderte ich und prallte ein paar Schritte weit zurück; »höre, mein schlauer Junge, das ist ganz ausgeschlossen, ganz und gar unmöglich; Mr. Talbot ist nicht fort. Was meinst du damit?«
»Nichts, Herr; nur, Mr. Talbot ist nicht da. Das ist alles. Er ist nach S. hinübergeritten, gleich nach dem Frühstück, und hat hinterlassen, dass er nicht vor Ablauf einer Woche in die Stadt zurückkommen würde.«
Ich stand vor Schreck und Wut versteinert. Ich versuchte, zu entgegnen, doch die Zunge versagte mir den Dienst. Endlich drehte ich mich, krebsrot vor Grimm, auf dem Absatz herum und wünschte das ganze Geschlecht der Talbots zu allen Teufeln. Es war klar, dass mein geschätzter Freund, il fanatico, seine Verabredung mit mir ganz vergessen hatte – sie im Augenblick, wo sie getroffen wurde, vergessen hatte. Er war nie der Mann gewesen, der sein Wort sehr wichtig nahm. Da war nichts zu machen; ich dämpfte also meine Entrüstung, so gut ich konnte, und schritt übelgelaunt die Straße hinunter, indem ich jedem Bekannten, den ich traf, mit belanglosen Fragen nach Madame Lalande zusetzte. Ich fand, dass alle sie vom Hörensagen kannten, viele vom Sehen – sie war aber erst seit einigen Wochen in der Stadt, daher gab es nur wenige, die sich ihrer persönlichen Bekanntschaft rühmen konnten. Und diese wenigen, die ihr verhältnismäßig fremd waren, konnten oder wollten sich nicht die Freiheit herausnehmen, mich durch einen förmlichen Vormittagsbesuch bei ihr einzuführen. Als ich nun so voll Verzweiflung mit einem Freundeskleeblatt über den ausschließlichen Gegenstand meiner Herzensneigung sprach, geschah es, dass dieser Gegenstand selber vorbeikam.
»Bei meinem Leben, da ist sie!« rief einer.
»Überwältigend schön!«, rief der Zweite.
»Ein Engel auf Erden!«, äußerte der Dritte.
Ich sah hin; in einem offenen Wagen, der langsam näher kam, saß meine bezaubernde Erscheinung aus der Oper in Begleitung der jungen Dame, die mit ihr in der Loge gewesen war.
»Auch ihre Begleiterin konserviert sich ausgezeichnet«, sagte jener der drei, der zuerst gesprochen hatte.
»Erstaunlich«, sagte der Zweite, »geradezu glänzend; doch Kunst tut Wunder. Auf mein Wort, sie sieht heute besser aus als vor fünf Jahren in Paris. Noch immer eine schöne Frau; – findest du nicht auch, Froissart? – Simpson, meine ich.«
»Noch immer?«, sagte ich. »Und warum sollte sie nicht? Doch verglichen mit ihrer Freundin ist sie wie ein Nachtlicht zum Abendstern – ein Glühwürmchen zum Antares.«
»Ha, ha, ha! – Höre, Simpson, du hast ja eine erstaunliche Begabung, Entdeckungen zu machen – originell, meine ich.« Und so trennten wir uns, während einer der drei ein lustiges Vaudeville zu summen begann, von dem ich nur die Worte
»Ninon, Ninon, Ninon à das –
A bas Ninon de l’Enclos!«
auffing.
Eines aber an dieser kleinen Szene hatte wesentlich dazu beigetragen, mich zu trösten, wenngleich es der verzehrenden Leidenschaft neue Nahrung gab. Als der Wagen Madame Lalandes an unserer Gruppe vorüberfuhr, sah ich, dass sie mich erkannte. Und mehr als dies; sie hatte mir durch ein engelgleiches Lächeln ein unzweideutiges Zeichen des Wiedererkennens gegeben.
Die Hoffnung, bei ihr eingeführt zu werden, musste ich allerdings vertagen, bis Talbot sich bewogen fühlte, vom Land zurückzukehren. Inzwischen besuchte ich jede vornehme Vergnügungsstätte, und endlich wurde mir das himmlische Glück zuteil, ihr in dem Theater, in dem ich sie zuerst gesehen hatte, wieder zu begegnen. Das geschah jedoch erst nach Ablauf von vierzehn Tagen. Inzwischen hatte ich jeden Tag in Talbots Wohnung nach ihm gefragt und war jeden Tag durch das standhafte »Noch nicht zurückgekommen« seines Dieners erneut in einen Wutanfall versetzt worden.
An dem fraglichen Abend geriet ich daher in einen Zustand, der nahe an Verrücktheit grenzte. Madame Lalande, hatte man mir gesagt, war eine Pariserin – war unlängst aus Paris eingetroffen; konnte sie nicht plötzlich dorthin zurückkehren? – Zurückkehren, ehe Talbot wiederkam – und mir so für immer verloren gehen? Der Gedanke war unerträglich. Da mein Zukunftsglück auf dem Spiel stand, beschloss ich, mit männlicher Entschlossenheit zu handeln. Mit einem Wort: Als das Stück aus war, folgte ich der Dame bis zu ihrem Haus, notierte die Adresse und sandte ihr am anderen Morgen einen langen und ganz ausführlichen
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