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Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edgar Allan Poe
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Siehst du die Loge? – Dort! – Nein, die nächste. Hast du je ein so entzückendes Weib gesehen?«
    »Sie ist sehr schön, gewiss«, sagte er.
    »Ich möchte wohl wissen, wer es sein mag.«
    »Ja, um Himmels willen, weißt du denn nicht, wer sie ist? ›Von ihr nichts wissend, schilt unwissend dich‹. Es ist die berühmte Madame Lalande – die Schönheit des Tages par excellence und das Stadtgespräch. Überdies ungeheuer wohlhabend – eine Witwe – und eine große Partie – ist gerade aus Paris angekommen.«
    »Kennst du sie?«
    »Ja – ich habe die Ehre.«
    »Willst du mich vorstellen?«
    »Gewiss – mit dem größten Vergnügen; wann soll es geschehen?«
    »Morgen, um eins; ich werde dich abholen.«
    »Sehr gut. Und nun halte den Mund, wenn es dir möglich ist.«
    In dieser Hinsicht war ich gezwungen, Talbots Rat zu befolgen; denn er blieb jeder weiteren Frage oder Bemerkung gegenüber taub und befasste sich für den Rest des Abends ausschließlich mit den Vorgängen auf der Bühne.
    Inzwischen hielt ich meine Blicke fest auf Madame Lalande geheftet und hatte schließlich das Glück, ihr voll ins Gesicht sehen zu können. Es war ungemein lieblich; freilich hatte mein Herz mir das vorher gesagt, selbst wenn Talbot mich nicht über diesen Punkt völlig zufriedengestellt hätte – doch immer noch störte mich das unbegreifliche Etwas. Ich kam schließlich zu der Auffassung, dass meine Sinne von einem gewissen ernsten, traurigen oder besser abgespannten Ausdruck beunruhigt wurden, der den Mienen etwas von ihrer Jugend und Frische nahm, jedoch nur, um ihnen eine engelhafte Sanftmut und Majestät zu verleihen und dadurch mein Interesse kraft meiner begeisterungsfähigen und romantischen Veranlagung zehnfach zu steigern.
    Während ich meine Augen so schwelgen ließ, bemerkte ich plötzlich zu meiner großen Bestürzung an einem fast unmerklichen Zusammenzucken der Dame, dass sie auf mein beständiges Hinschauen aufmerksam geworden war. Jedoch ich blieb nun einmal völlig bezaubert und konnte den Blick auch nicht für eine Sekunde abwenden. Sie wandte den Kopf zur Seite, und wieder sah ich nur mehr die gemeißelten Linien des Hinterkopfes. Nach einigen Minuten drehte sie, wie aus Neugier, ob ich noch immer hinübersähe, mir langsam wieder das Gesicht zu und begegnete meinem brennenden Blick. Sie senkte sofort die großen dunklen Augen, und ein tiefes Erröten überzog ihre Wangen. Wie groß aber war mein Erstaunen, als sie nun den Kopf nicht zum zweiten Mal abwandte, sondern sogar zu einer Lorgnette griff, die an ihrem Gürtel hing – sie erhob – an die Augen führte – und mich dann minutenlang eingehend und bedachtsam durch die Gläser betrachtete.
    Wäre der Blitz vor meinen Füßen eingeschlagen, so hätte ich nicht tiefer bestürzt sein können – nur bestürzt – nicht im Geringsten verletzt oder empört; obgleich eine so dreiste Handlungsweise bei jedem anderen Weib sehr leicht verletzend oder empörend gewirkt haben würde. Die ganze Sache geschah aber mit soviel Ruhe, soviel Natürlichkeit und Haltung – kurz, mit einer so erkennbaren Wohlerzogenheit –, dass es durchaus nicht unverschämt wirkte, und ich empfand nichts anderes als Verwunderung und Überraschung.
    Ich bemerkte, dass sie sich zunächst mit einer kurzen Besichtigung meiner Person begnügte und das Glas sinken ließ. Dann aber – wie von einem neuen Gedanken ergriffen – führte sie es wiederum an die Augen und betrachtete mich nochmals mit gespannter Aufmerksamkeit mehrere Minuten lang – mindestens fünf Minuten lang, möchte ich behaupten.
    Dieses für ein amerikanisches Theater so außerordentliche Gebaren erweckte die allgemeine Aufmerksamkeit und verursachte eine gewisse Bewegung, ein Raunen im Publikum, das mich einen Augenblick lang verwirrte, auf Madame Lalandes Mienen aber keine sichtbare Wirkung hervorrief.
    Nachdem sie ihre Neugier – wenn es solche war – befriedigt hatte, ließ sie das Glas sinken und wandte ihre Aufmerksamkeit gelassen wieder der Bühne zu, mir, wie vorher, das Profil zukehrend. Ich fuhr unablässig fort, sie anzustarren, wenngleich ich mir der Ungezogenheit dieses Benehmens völlig bewusst war. Auf einmal sah ich, dass ihr Kopf langsam und sachte seine Lage veränderte, und bald hatte ich die Gewissheit, dass die Dame nur so tat, als blicke sie zur Bühne, in Wirklichkeit aber mich aufmerksam betrachtete. Überflüssig, zu sagen, welche Wirkung dieses Betragen einer so bezaubernden Frau auf

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