Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edgar Allan Poe
Vom Netzwerk:
oder die Glut der Sonne. Gewöhnlich aber schienen seine Augen erloschen, verschleiert und trüb, man konnte sich einbilden, es seien die Augen eines schon lange in der Erde ruhenden Toten.
    Diese Eigentümlichkeiten seiner persönlichen Erscheinung waren ihm selbst sehr unangenehm; er liebte es, sie zu erklären, zu entschuldigen, was mich zunächst recht peinlich berührte. Bald aber gewöhnte ich mich daran, und mein Unbehagen schwand. Er suchte, nicht gerade zu behaupten, doch anzudeuten, dass er physisch nicht immer so gewesen sei wie jetzt – dass vielmehr eine große Anzahl neuralgischer Anfälle ihn, einen früher sehr schönen Menschen, bis zu seinem jetzigen Zustand heruntergebracht habe.
    Seit vielen Jahren schon wurde er von einem Arzt namens Templeton, einem alten Herrn von vielleicht siebzig Jahren, begleitet; Bedloe war ihm zuerst in Saratoga begegnet, wo ihm seine Behandlung sehr wohltuend gewesen oder wenigstens so erschienen war. So kam es, dass Bedloe, der wohlhabend war, mit Dr. Templeton ein Abkommen getroffen hatte, demzufolge dieser sich gegen ein bedeutendes Jahresgehalt bereit erklärte, seine Zeit und ärztliche Erfahrung ausschließlich in Bedloes Dienst zu stellen.
    Dr. Templeton war in seinen jungen Jahren viel gereist und in Paris zum gläubigen Anhänger der Lehren Mesmers geworden. Lediglich mit Hilfe magnetischer Mittel war es ihm gelungen, die akuten Schmerzanfälle seines Patienten zu lindern, und dieser Erfolg hatte letzterem natürlich einiges Vertrauen zu den Anschauungen eingeflößt, denen man so wirksame Heilmittel verdankte. Der Doktor jedoch hatte sich gleich allen Enthusiasten heiß bemüht, aus seinem Schüler einen überzeugten Anhänger zu machen, und war schließlich seinem Ziel so weit nahe gekommen, dass der Leidende sich willig zahlreichen Experimenten unterwarf. Die häufige Wiederholung derselben hatte ein Resultat gezeitigt, das heutzutage allgemein bekannt und anerkannt ist und daher kaum noch Beachtung findet, von dem man aber damals in Amerika so gut wie gar nichts wusste. Ich will damit sagen, dass zwischen Doktor Templeton und Bedloe nach und nach ein ganz bestimmter und streng begrenzter Rapport erwachsen war, dass also zwischen ihnen eine magnetische Beziehung bestand. Ich will zwar nicht behaupten, dass dieser Rapport über das einfache Resultat, dass der Arzt den Patienten einzuschläfern vermochte, hinausging, aber diese Macht war immer stärker geworden. Der erste Versuch, einen magnetischen Schlaf herbeizuführen, war dem Mesmeristen fehlgeschlagen; beim fünften oder sechsten Versuch erzielte er nach großer Anstrengung einen teilweisen Erfolg. Erst beim zwölften Male war der Sieg vollkommen.
    Von nun an unterlag der Wille des Patienten sehr schnell dem des Arztes, und damals, als ich die beiden kennenlernte, genügte der bloße Gedanke Templetons, um Bedloe, selbst wenn dieser von der Gegenwart des Arztes nichts wusste, sofort in Schlaf zu versetzen. Erst jetzt, im Jahre 1845, wo Tausende täglich ähnliche Wunder erleben, darf ich es wagen, diese scheinbare Unmöglichkeit als ernst zu nehmende Tatsache zu berichten.
    Bedloes Temperament war im höchsten Grad empfindsam, reizbar, enthusiastisch. Seine Einbildungskraft war erstaunlich lebhaft und schöpferisch und wurde noch durch den gewohnheitsmäßigen Genuss von Morphium gesteigert, das er in großen Mengen genoss und nicht entbehren konnte. Es war seine Gewohnheit, jeden Morgen gleich nach dem Frühstück eine große Dosis zu sich zu nehmen – oder vielmehr gleich nach dem Genuss einer Tasse schwarzen Kaffees, denn am Vormittag aß er nichts – und dann allein, nur von seinem Hund begleitet, spazieren zu gehen; er machte große Wanderungen durch das wilde und düstere Hügelgelände, das sich im Westen und Süden von Charlottesville hinzieht und dem man den Namen »Ragged Mountains« verliehen hat.
    An einem warmen nebligen Tag gegen Ende November, zu einer Jahreszeit also, die man in Amerika den »Indianischen Sommer« nennt, machte sich Herr Bedloe wie üblich auf den Weg nach den Hügeln. Der Tag verging, und noch immer kehrte er nicht zurück.
    Gegen acht Uhr abends, als sein unerwartet langes Ausbleiben uns beunruhigte und wir uns auf die Suche machen wollten, erschien er plötzlich; sein Befinden war nicht schlechter als gewöhnlich, seine Stimmung seltsam aufgeregt. Der Bericht, den er von seiner Wanderung gab und von den Ereignissen, die sein Ausbleiben veranlassten, war in der Tat

Weitere Kostenlose Bücher