Gesammelte Werke
geheimnisvollen Mordfall der Marie Rogêt. Es erschien mir daher als ein wunderbares Zusammentreffen, dass sich die Tür unseres Zimmers plötzlich öffnete und unser alter Bekannter, Herr G., der Polizeipräfekt von Paris, eintrat.
Wir begrüßten ihn herzlich; denn wenn wir den Mann auch nicht eben achteten, so war er andererseits doch unterhaltend, und wir hatten ihn seit Jahren nicht gesehen. Wir hatten im Dunkeln gesessen, und Dupin erhob sich nun, um die Lampe anzuzünden; er unterließ es jedoch und setzte sich wieder, als G. sagte, er sei gekommen, uns um Rat zu fragen oder vielmehr die Meinung meines Freundes zu hören in einer Amtsangelegenheit, die ihm schon viel Beschwer gemacht habe.
»Wenn es eine Sache ist, die Nachdenken erfordert«, bemerkte Dupin, indem er mit Anzünden des Dochtes innehielt, »so ist es besser, wir prüfen sie im Dunkeln.«
»Wieder so eine Ihrer sonderbaren Ansichten!«, sagte der Präfekt, der alles ›sonderbar‹ nannte, was über sein Begriffsvermögen hinausging, und sich daher von einer Legion von Sonderbarkeiten umgeben sah.
»Sehr wahr«, sagte Dupin, während er seinem Besuch eine Pfeife reichte und einen bequemen Sessel hinschob.
»Und um was für Schwierigkeiten handelt es sich diesmal?«, fragte ich. »Hoffentlich nicht wieder eine Mordgeschichte?«
»O nein; nichts dergleichen. In der Tat – die Sache ist an sich
sehr
einfach, und ich bezweifle nicht, dass wir ganz gut allein damit fertig werden könnten; aber dann dachte ich, der Fall würde Dupin interessieren, denn er ist höchst sonderbar.«
»Einfach und sonderbar!«, sagte Dupin.
»Nun ja; und doch wieder keins von beiden. Es hat uns nur alle so verwirrt, dass die Geschichte so einfach ist und man ihr doch nicht beikommen kann.«
»Vielleicht ist es gerade die Einfachheit der Sache, die Sie irreleitet, mein Freund.«
»Was für Unsinn Sie reden!«, erwiderte der Präfekt lachend.
»Vielleicht ist das Geheimnis ein wenig zu klar«, sagte Dupin.
»Oh Himmel! Welche verrückte Idee!«
»Ein wenig
zu
durchsichtig.«
»Ha, ha, ha! – Ha, ha, ha! – Ho, ho, ho!«, brüllte unser Besuch aufs Höchste belustigt. »Oh Dupin, Sie werden noch an meinem Tode schuld sein.«
»Was für eine Sache ist es denn nun aber eigentlich?«, fragte ich.
»Schön, Sie sollen es hören«, erwiderte der Präfekt und tat einen langen, kräftigen und nachdenklichen Zug aus der Pfeife; dann rückte er sich im Stuhl zurecht und begann: »Ich will es Ihnen in kurzen Worten sagen; doch ehe ich anfange, muss ich Sie darauf aufmerksam machen, dass die Sache tiefstes Geheimnis ist und größte Diskretion verlangt und dass ich höchstwahrscheinlich meinen Posten verlieren würde, wenn es herauskäme, dass ich sie jemand erzählt habe.«
»Fahren Sie fort«, sagte ich.
»Oder auch nicht«, sagte Dupin.
»Also gut; ich wurde von sehr hoher Stelle benachrichtigt, dass ein Dokument von höchster Wichtigkeit aus den königlichen Gemächern entwendet worden sei. Die Person, die den Diebstahl ausführte, kennt man; das steht fest, denn sie wurde bei der Tat beobachtet. Man weiß ferner, dass sie noch im Besitz des Dokuments ist.«
»Woher weiß man das?«, fragte Dupin.
»Dies ergibt sich aus der Natur des Dokuments selbst und daraus, dass gewisse Ergebnisse nicht eingetreten sind, die unausbleiblich erfolgen würden, wenn der Dieb das Papier aus den Händen gäbe – das heißt, wenn er es so anwendete, wie er es im Grunde beabsichtigen muss.«
»Seien Sie ein bisschen deutlicher«, sagte ich.
»Schön, ich kann so weit gehen, zu sagen, dass das Papier seinem gegenwärtigen Besitzer eine gewisse Macht verleiht an einer gewissen Stelle, wo diese Macht von ungeheurem Wert ist.« Der Präfekt liebte es, sich diplomatisch auszudrücken.
»Ich verstehe noch immer nicht ganz«, sagte Dupin.
»Nicht? Also: Würde der Inhalt des Dokuments einer dritten Person, die ich hier ungenannt lassen will, eröffnet, so würde das die Ehre einer sehr hochstehenden Persönlichkeit in ein schlechtes Licht setzen, und dieser Umstand gibt dem Inhaber des Papiers ein Übergewicht über die erlauchte Person, deren Ruhe und Ehre dadurch gefährdet ist.«
»Aber dieses Übergewicht«, warf ich ein, »würde nur dann bestehen, wenn der Dieb wüsste, dass der Bestohlene selbst genaue Kenntnis von der Person des Täters hat. Wer aber könnte wagen –«
»Der Dieb«, sagte G., »ist der Minister D., der alle Dinge wagt, ob sie einem Ehrenmann nun
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