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Gesang der Daemmerung

Gesang der Daemmerung

Titel: Gesang der Daemmerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Megan MacFadden
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Pferdehufe, die Peitsche, die in regelmäßigen Abständen knallte. Kälte zog durch den Mantel, sie begann zu zittern, und in ihrem Inneren stieg die Gewissheit auf, dass ihr tatsächlich Gefahr drohte.
    Sie ging von jenem unheimlichen Mann aus, diesem schmalgesichtigen Wesen, das sein wahres Antlitz hinter der Maske eines wohlgenährten schnurrbärtigen Menschen verborgen hatte. Er war es gewesen, der mit seiner düsteren Sphäre den Saal verdunkelte, nur seinetwegen hatte sie diese unerklärliche Angst vor dem Publikum empfunden.
    Er ist ein Geistwesen, dachte sie beklommen. Ein Nachtschatten vielleicht, genau wie Darion. Was geschieht in dieser fremden Geisterwelt, in die man mich hineingeworfen hat?
    Die Kutsche preschte mit unveränderter Geschwindigkeit durch die nächtliche Stadt, und Marian fragte sich, wie das Pferd dieses Tempo auf Dauer wohl durchhalten konnte. Handelte es sich auch bei diesem Tier um ein Geistwesen? Verfügte es über Zauberkräfte, die ihm ermöglichten, stundenlang zu traben, ohne müde zu werden?
    Der matte Schein einzelner Straßenlaternen tauchte jetzt in regelmäßigen Abständen auf, die Räder ratterten über Kopfsteinpflaster, sie fuhren durch die Londoner Innenstadt. Lichter erwuchsen aus der Finsternis, reihten sich aneinander und ließen Menschen und Gebäude erkennen. Hinter den Ladenscheiben brannten bunte Glühbirnen, beleuchtete Kutschen rasselten an ihnen vorüber, Diener trugen Laternen, um ihrer Herrschaft auf dem Heimweg von der Oper zu leuchten, zwei livrierte Angestellte schleppten eine vornehme Dame in einer Sänfte.
    Marian starrte aus dem Kutschenfenster auf das unbefangene Leben, das dicht an ihr vorüberströmte. Sie konnte das Gekeife einer betrunkenen Händlerin hören, der ein paar Lausbuben den Bauchladen ausgeleert hatten. Nicht weit davon stand eine Gruppe zerlumpter Bettler um eine Blechtonne, in der sie ein Feuer entzündet hatten, um sich ein wenig aufzuwärmen. Hier war die Welt der Menschen, lärmend und prall, voller Lichter, voller handfester Wesen aus Fleisch und Blut. Man konnte die Nase über sie rümpfen oder sie verachten, und doch erschien ihr diese Welt jetzt wie eine sichere Zuflucht. Was waren schon ein paar Betrunkene gegen die tödliche Bedrohung durch ein unheimliches Schattenwesen? Auf der Regent Street herrschte dichter Verkehr, vermutlich hatten die Theater gerade eben ihre Vorstellungen beendet. Die Kutsche geriet zwischen die dahinzockelnden Wagen und war gezwungen, langsamer zu fahren.
    Marian streckte zögerlich die Hand nach dem Griff des Türschlags aus, drehte sich dann um und betrachtete durch das Rückfenster die muskulösen Beine des Kutschers, die trotz der Dezemberkälte weder von Beinkleidern noch von einem Paar Stiefel verhüllt waren. Trug Darion etwa Kettenhemd und Schwert unter dem Mantel? Sie hatte ein schlechtes Gewissen bei ihrem Vorhaben und hätte ihm gern erklärt, weshalb sie so handelte. Doch wozu eigentlich? Hatte Darion ihr jemals sein Verhalten erklärt? Keineswegs – er redete nur immer davon, dies später einmal zu tun.
    Als dicht vor ihnen ein Wagen anhielt, um zwei Fahrgäste einsteigen zu lassen, geriet der Verkehr erneut ins Stocken – der passende Moment war gekommen! Leichter, als sie geglaubt hatte, ließ der Hebel sich bewegen, der Kutschenschlag öffnete sich, und sie sprang hinaus.
    »Marian! Nein!«
    Sie war darauf vorbereitet, dass Darion ihre Flucht bemerken und sie verfolgen würde, deshalb beeilte sie sich, in die Nähe der hell beleuchteten Geschäfte zu gelangen, wo seine Augen sie nur schwer erfassen konnten. Fast tat er ihr nun leid, denn sie sah ihn zwischen den Menschen umherirren, ein häufig angestoßenes Hindernis, und sie hörte, wie er verzweifelt ihren Namen rief. Unbeweglich blieb sie vor einem hellen Ladenfenster stehen, in dem die neuesten Hutkreationen ausgestellt waren, und erst als er zu der Kutsche zurückkehren musste, schlüpfte sie zwischen den Menschen hindurch und eilte davon.
    Eine Weile lief Marian neben einer Straßenhändlerin her, einer ältlichen, verhärmt aussehenden Person, die ein kariertes Tuch gegen die Kälte um ihre Schultern gelegt hatte und den Vorübergehenden bunt bemalte Holzfigürchen anbot. Das Geschäft war mager, schließlich wurde die Ärmste sogar von einer geifernden Konkurrentin verscheucht, die kleine Engelfiguren aus Wachs verkaufte und behauptete, hier ihren Stammplatz zu haben.
    Marian hätte die Händlerin gern gefragt, ob sie ihr

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