Gesang der Daemmerung
ganz in der Nähe ein Wasserfall. Aber wahrscheinlich rührte es einfach vom Rattern und Klirren der Kutsche her. Wohin fuhren sie? Es war dunkel hinter den Fenstern, schwarze Nacht umgab sie.
»Seinen Lohn? Aber sie sind über ihn hergefallen …«
Die Züge des Geistwesens bewegten sich kaum, schmal und bleich schien sein Gesicht in der Dunkelheit des Kutschenraums zu schweben. Nur wenn man es aufmerksamer betrachtete, konnte man erkennen, dass sein Mund sich leicht verzog. Es war belustigt.
»Den Lohn, den er sich verdient hat, Marian. So ergeht es jedem Wesen in meinem Reich, denn ich bin ein gerechter Herr, der jedem das Seine zukommen lässt.«
Marian hörte die Ironie heraus und begriff, dass Darion dort in den Straßen der Stadt um sein Leben kämpfte. Es war ihre Schuld, vielleicht wäre alles anders gekommen, wenn sie ihm gefolgt wäre. Doch ihre Reue kam zu spät, sie war in der Gewalt dieses unheimlichen Wesens, niemand konnte ihr helfen, am wenigsten Darion, der vielleicht schon unter den Toten war.
Verzweiflung stieg in ihr auf wie eine gewaltige Woge, übermächtig, lähmend, zerstörerisch. Dann aber erhoben sich Töne tief in ihrem Inneren, schreckliche nie gekannte Klänge vibrierten in ihren Ohren und ließen sie am ganzen Körper erzittern. Was geschah mit ihr? Wer sandte ihr diese Melodie? Ihre Kehle wurde weit, und die Töne brachen aus ihr hervor, sie sang ihren Zorn mit der Stimme der Königin.
Das mondbleiche Antlitz des Geistwesens verzerrte sich vor Entsetzen, streckte seine Hände vor, um Marian zu ergreifen, ihren Ruf zu ersticken. Doch bevor es sie auch nur berühren konnte, erfasste eine gewaltige Kraft die gesamte Kutsche, beutelte sie, riss sie in die Höhe und ließ sie wieder hinabstürzen. Marian hörte vielstimmige Schreie, die in einem Zischen und Brausen untergingen, das nur von einem zornig aufbrausenden Gewässer stammen konnte. Dann brandete der aufgewühlte Fluss gegen die Kutschenfenster, riss die Türen auf und schwemmte alles davon, was sich im Inneren befand.
Teil III
Kapitel 22
»Sie ist zart wie eine Fee und schön wie ein Engel.«
»Eine seltene Kostbarkeit!«
Marian glaubte, diese Stimmen zu kennen, doch sie war sich nicht sicher, denn in ihrem Kopf herrschte vollkommener Wirrwarr. War sie krank? Fiebrig? Oder hatte sie geträumt? Nein, Fieber hatte sie auf keinen Fall, eher war ihr kalt. Und feucht schien es hier zu sein, geradezu nass. Aber wenigstens lag sie auf einer weichen Unterlage, auf einer Daunendecke oder einem Bett aus Watte. Es schmiegte sich angenehm, wenn auch ein wenig klebrig an ihren Körper, man konnte sich wunderbar darauf ausruhen. Sie war so müde.
»Nun kommt schon! Habt ein Herz für einen armen Verwundeten!«
Diese Stimme kannte sie auf jeden Fall, sie gehörte dem treulosen Schattengeist Darion. Etwas in ihrem Inneren schmerzte bei dem Gedanken an ihn. Gewiss, er hatte sie bestohlen und belogen und doch behauptet, sie zu lieben. Er hatte sie schamlos verführt, nie hatte sie solche Lust empfunden wie in dieser Nacht, als er bei ihr lag. Aber er war tot, die schwarzen Gestalten hatten ihn erschlagen, es war der gerechte Lohn für seine »Botendienste« … Wer hatte das doch gesagt?
»Habt ihr gehört, Schwestern? Er versucht es auf die Mitleidstour. Komm her, du armer Verwundeter …«
»Ja, komm ein wenig näher, Darion, du hübscher Nachtschatten …«
»Lass uns deine Wunden ansehen, damit wir sie heilen. Überall wollen wir dich heilen, am ganzen Körper, du Schöner …«
Die Stimmen klangen weich und schmeichlerisch, auch ein wenig spöttisch. Marian verspürte gelinden Ärger. Wer verlockte den Geist der Nacht mit solch aufdringlichen Worten? Überhaupt – war er denn nicht tot? Sie seufzte und versuchte, ihren Kopf zu drehen, doch dabei wurde ihr schwindelig, und so ließ sie es besser sein.
»Nehmt eure klebrigen Finger von mir!«, knurrte der Geist der Nacht. »Ich stehe nicht zur Verfügung. Weshalb habt ihr euch nicht bei Gorians Gefolge bedient?«
Abfälliges Zischen und lautes Kichern bildeten die Antwort. Marian wurde jetzt klar, dass es die Nebelfrauen waren, die sich irgendwo in der Nähe mit Darion stritten. Aber wo befand sie sich? Dem fauligen Geruch nach konnte der Fluss nicht weit sein. Wenn sie doch nur etwas hätte sehen können, aber um sie herum herrschte dichte Finsternis.
»Machst du Witze? Nicht einmal bedankt haben sie sich für unsere Freundlichkeit! Gedroht hat er uns, der Herrscher der
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