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Gesang der Daemmerung

Gesang der Daemmerung

Titel: Gesang der Daemmerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Megan MacFadden
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doch nicht etwa ganz allein unterwegs?«
    Verblüfft blieb sie stehen, wollte kaum glauben, wen sie vor sich sah, und doch war es unverkennbar Mrs. Potter, die Leiterin des Mädchenpensionats. Sie hatte sich für den Restaurantbesuch ganz ungewöhnlich hübsch gemacht, trug ein blassblaues Kleid mit langer wattierter Jacke, dazu einen recht passablen Hut, und ihre Hände steckten in einem Müffchen aus grauem Kaninchenpelz. Der Herr an ihrer Seite war Mr. Duncester, der Besitzer des Pensionats.
    »Oh, Mrs. Potter – was für ein glückliches Zusammentreffen! Würde es Ihnen etwas ausmachen … ich meine, Mr. Strykers wird Sie gewiss dafür bezahlen … könnte ich diese Nacht im Pensionat unterkommen?«
    Mrs. Potter schien dieses Ansinnen als reichlich dreist zu empfinden. Sie hob das Kinn und blickte zweifelnd zu ihrem Begleiter, der wiederum Marian anstarrte.
    »Nun – die junge Lady scheint in Schwierigkeiten zu stecken«, meinte Mr. Duncester und räusperte sich. »Da ist es unsere Christenpflicht, ihr für dieses Mal beizustehen. Schließlich war sie einmal Zögling meines Instituts …«
    Etwas Seltsames ging plötzlich um sie herum vor, doch da ihr jetzt ein wenig schwindelig wurde, konnte sie das Geschehen nur zum Teil wahrnehmen. Sie sah, wie Mr. Duncester seine Hand hob, um eine Kutsche herbeizuwinken. Gleich darauf stand das dunkle kastenförmige Gefährt schon vor ihr, und Mrs. Potter, die bereits darin Platz genommen hatte, fasste Marians Arm, um sie hineinzuziehen. Auf der Straße jedoch – dort, wo Mr. Duncester noch stehen geblieben war – hatte sich so etwas wie ein Tumult erhoben. Wie es schien, fielen die Leute, die das Restaurant verlassen hatten, übereinander her.
    »Kümmere dich nicht darum, Marian!«, befahl Mrs. Potter, die ihr gegenüber in der Kutsche saß. »Eine Lady schaut nicht hin, wenn der Mob sich prügelt.«
    »Aber … aber das waren doch die Gäste des Restaurants, Mrs. Potter! Lauter wohlhabende, gut situierte Gentlemen. Und auch Mr. Duncester …«
    »Nicht hinschauen, habe ich gesagt! Verdammt, Marian Lethaby, weshalb kannst du nicht gehorchen?!«
    Mrs. Potters Stimme klang ungewöhnlich kräftig, auch war es bisher niemals vorgekommen, dass die Leiterin des Pensionats Kraftausdrücke benutzte. Panik erfüllte Marian. Sie hatte nur einen kurzen Blick durch das Rückfenster der Kutsche geworfen, doch trotz der Betäubung, in die man sie versetzt hatte, begriff sie, dass dort vor dem Eingang des teuren Restaurants ein Kampf im Gange war. Wer diese dunkel gekleideten geschmeidigen Figuren waren und woher sie kamen – sie wusste es nicht, doch eines war nur allzu deutlich: Die Menschen gingen vollkommen unbeteiligt an dem Tumult vorüber – ja, ein junges Paar unter einem breiten Regenschirm lief sogar mitten durch die Kämpfer hindurch. Sie konnten die Wesen der anderen Welt nicht sehen.
    »Du musst dir keine Sorgen machen, Marian«, setzte Mrs. Potter mit einer fremden hellen Männerstimme an. »Dort, wohin ich dich bringe, wird niemand dir etwas zuleide tun. Im Gegenteil, meine Liebe! Du wirst hochgeachtet und von allen geliebt werden.«
    Unbeschreibliches Grauen erfasste Marian, als die ihr gegenübersitzende Gestalt sich nun zu wandeln begann. Das Gesicht zog sich in die Länge, die Augenhöhlen fielen ein, umgaben sich mit Schatten, mondfarbene Blässe breitete sich auf den Zügen des Wesens aus.
    »Sie … sie sind gar nicht Mrs. Potter …«
    Sie erhielt keine Antwort. Vielleicht hatte er ihr Flüstern gar nicht gehört, oder er war viel zu sehr mit seiner Verwandlung beschäftigt. Die Kleidung veränderte sich, der Damenhut wurde zu einem Zylinder, das hellblaue Kleid war jetzt ein dunkler Anzug von merkwürdigem Zuschnitt, der graue Muff verwandelte sich in eine große Ratte, die Marian mit runden nachtklaren Augen anstarrte.
    »Was haben Sie mit Darion gemacht?«
    Immer noch schwieg ihr Gegenüber, doch als jetzt rechts und links seines schmallippigen Mundes die tiefen Furchen wuchsen, erkannte sie ihn. Eisige Kälte wollte sie lähmen. Wie dumm sie gewesen war, als sie glaubte, in der Menschenwelt Zuflucht vor der Welt der Geister zu finden! Ihre verzweifelte Flucht hatte sie diesem Wesen geradewegs in die Arme geführt.
    »Darion ist mein treuer Bote, Marian. Nun hat er seine Aufgabe erfüllt und erhält seinen Lohn.«
    Unter dem bohrenden Blick seiner kleinen schwarzen Augen verstärkte sich das Schwindelgefühl, in Marians Ohren rauschte es, als befände sich

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