Gesang der Daemmerung
stießen ihre vorsichtig ausgestreckten Hände schon wieder an eine Felswand, sie musste sich umwenden und wieder zurückschreiten. Eine Weile hielt sie sich so in Bewegung, doch diese Maßnahme half nur wenig gegen die Kälte und führte außerdem dazu, dass sie sich wie ein Insekt vorkam, das man in ein Marmeladenglas gesperrt hatte. Schließlich setzte sie sich resigniert wieder auf den Boden und umschloss ihre hochgezogenen Knie mit den Armen. Das war wohl die beste Methode, um nicht allzu sehr auszukühlen.
»Bleib ruhig!«, beschwor die Stimme Marian. »Er will dich mürbe machen. Aber er selbst zittert vor Ungeduld.«
Es bestand kein Zweifel, dass diese Stimme Eolin gehörte. Ein Teil ihres Wesens musste sich hier im Fels erhalten haben, er lebte in den glitzernden Quarzeinschüssen, in den bunten Metalladern, in den unzähligen feinen Wasserwegen, die den Stein durchzogen. Er lebte auch in Marians Kopf und in ihrem Sinn. Eolin war mit ihr.
Die Zeit dehnte sich, zählte nach Jahrhunderten, nach dem leisen beharrlichen Tropfen irgendwo im Fels, das seinen Rhythmus über Jahrtausende weder verlangsamte noch beschleunigte.
»Steh auf!«
Ein Licht wuchs sachte in die Dunkelheit, ein blasser Kreis um eine kleine Laterne, deren Glasscheiben milchig waren – vermutlich, damit sie die Augen der Nachtschatten schonten.
»Nun mach schon! Der Herr wartet!«
Es waren zwei junge Männer mit fahlen nichtssagenden Gesichtern. Sie trugen nicht die üblichen Kettenhemden, sondern graue, seltsam altmodisch anmutende Gewänder und eng anliegende Stiefel. Ganz sicher handelte es sich nicht einmal um Krieger, sondern nur um Bedienstete, die einen ziemlich niederen Rang einnahmen. Dennoch blickten sie abschätzig auf die am Boden sitzende Lichtelbin, als wäre sie ein hässliches, möglicherweise sogar gefährliches Insekt.
Der Moment war gekommen – Gorian konnte seine Ungeduld nicht mehr bezähmen. Langsam erhob Marian sich, zupfte ihren Rock zurecht und knöpfte den Mantel zu. In dem schwachen Licht erkannte sie nun, dass ihr Gefängnis tatsächlich kreisrund war. Die Öffnung im Fels, durch die die beiden Männer hereingekommen waren, hatte sie nicht bemerkt, als sie die Wände abtastete, und sie war sich ziemlich sicher, dass sie auch nicht da gewesen war.
Der schwache Lichtschein der Laterne irrte über den felsigen Boden, huschte über die Wände, hastete ihnen voraus und verlor sich immer wieder am Ende eines der schmalen Gänge, durch die man sie führte. Hie und da blitzte ein Bergkristall auf, der im Fels eingeschlossen war und das Licht reflektierte, dann fluchten die beiden Nachtschatten leise vor sich hin. Marian hingegen schöpfte Hoffnung aus dem funkelnden Licht.
Es war unmöglich, sich diesen Weg zu merken, der kreuz und quer, auf und ab durch ein System aneinanderhängender Höhlen führte. Manchmal begegneten sie Gruppen von Nachtschattenkriegern, die sie neugierig anstarrten und dabei die Augen zusammenkneifen mussten, weil das helle Haar der Lichtelbin den Schein der Lampe zurückwarf. Seltener lugte auch eine Frau aus einer der Höhlen hervor und verkroch sich scheu, wenn sie an ihr vorübergingen. Eine beängstigende Stille herrschte in den dämmrigen Gängen, als schluckte die Dunkelheit auch alle Geräusche.
Endlich blieben die beiden Nachtschatten stehen, und zwei Krieger traten auf sie zu, um die Gefangene zu übernehmen.
»Die Lichtelbin, die der Herr sehen will«, vermeldete einer ihrer Begleiter demütig.
Beide ließen die Schultern hängen und hatten die Köpfe eingezogen – wohl eine Geste der Unterwerfung, die bei den Nachtschatten üblich war.
»Halte die Lampe nicht so hoch, Dummkopf!«
Die beiden Krieger schienen den Auftrag zu haben, die Gefangene genau zu prüfen, damit ihr Herr keine bösen Überraschungen erlebte. Langsam schritten sie um Marian herum, groß gewachsene dunkle Burschen, die – anders als die beiden Bediensteten – ihr Opfer mit viel Neugier musterten.
»Solches Haar gehört abgeschnitten, es blendet schlimmer als Feuer!«
»Was für helle Augen sie hat!«
»Silbrige Haut, vermutlich am ganzen Körper.«
»Sie soll ein Zeichen zwischen den Schulterblättern tragen.«
»Zieh Mantel und Kleid aus, damit wir das kontrollieren können!«, forderte einer der beiden sie auf.
Marian bewegte sich nicht. Um nichts in der Welt wäre sie freiwillig bereit gewesen, sich vor diesen Burschen zu entkleiden.
»Was ist los? Müssen wir nachhelfen?«
In diesem
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