Gesang der Daemmerung
die lästige Person, dafür stiegen wieder die grausigen Geschehnisse der vergangenen Stunden in ihrer Vorstellung auf. Dieser Wust von düsteren ineinander verschlungenen Gestalten, die plötzlich vor den Kutschenfenstern aufgetaucht waren. Bleiche Gesichter mit tiefen Augenhöhlen, dunkle Körper, die im grauen Dunst nur teilweise zutage traten und gleich wieder verschwanden. Sehnige Arme, angespannte Schenkel, Schultern, blitzende Schwerter, auch blutige Wunden, ein gespaltenes Haupt, ein tiefer Schnitt quer über den Rücken eines Kämpfers. Das verzweifelte Wiehern ihrer Pferde, die ächzenden Eichen, an denen die Flammen emporzüngelten, und das scheußliche Gefühl, eine hilflose Gefangene zu sein, die man mitsamt der Kutsche davontrug.
Sereno hatte zuerst starr wie ein Toter dagesessen, dann plötzlich mit zitternden Händen den Kasten mit seinen Pistolen geöffnet und umständlich begonnen, sie zu laden.
»Das hat keinen Sinn!«, hatte Marian ihm zugerufen. »Es sind Nachtschatten, Geister der Nacht – keine Pistolenkugel kann ihnen etwas anhaben!«
»Ein Bubenstreich!«, kreischte er. »Sie wollen mich einschüchtern! Mit Flammen und Rauch. Sie rütteln an der Kutsche und vertreiben uns die Pferde …«
Sie widersprach nicht mehr, denn sie erkannte, dass er dem Wahnsinn nahe war. Als es ihm endlich gelungen war, die Waffen zu laden, riss er eines der Kutschenfenster herunter und begann, blindwütig nach draußen zu feuern. Nur eine der beiden Pistolen tat ihren Dienst, die andere versagte, doch Marian vernahm das höhnische Gelächter der Nachtschatten. Sereno aber, der ein Mensch war und die Geister weder sehen noch hören konnte, brüllte wütende Beschimpfungen, nannte die Angreifer Schurken und Hundesöhne und machte ernsthafte Anstalten, die Tür der Kutsche aufzureißen, um gegen die vermeintlichen Räuber anzutreten.
So zornig Marian noch kurz zuvor auf ihn gewesen war – jetzt versuchte sie verzweifelt, ihn festzuhalten, denn sie waren längst hoch oben in den Lüften.
»Lass mich los, dummes Gör! Ich weiß, wie man mit solchen Spitzbuben umgeht … So lass doch los, Marian Lethaby …«
Ausgerechnet einer der Nachtschatten kam ihr zu Hilfe, er versetzte Sereno einen festen Schlag mit der Faust, sodass der Professor taumelte, für einen Augenblick ungläubig vor sich hinstarrte und dann bewusstlos zurück auf den Sitz sank. Marian fürchtete zunächst, er könnte an dem Schlag sterben. Sie lockerte sein Halstuch, damit er freier atmen konnte, und versuchte, ihn ein wenig bequemer zu lagern. Später jedoch, als man sie aus der Kutsche zerrte und in völliger Finsternis durch enge feuchte Felsgänge in ihr trostloses Gefängnis stieß, beneidete sie Sereno. Was immer man jetzt mit ihm anstellte – er schlief sanft und selig und bekam nichts davon mit.
Es gab keinen Zweifel daran, dass Marian erneut in die Gewalt jenes Wesens geraten war, das schon einmal versucht hatte, sich ihrer zu bemächtigen. Gorian lautete sein Name, der Herr der Nachtschatten. Sie erinnerte sich deutlich an das schmale mondbleiche Gesicht mit den tiefen Längsfurchen rechts und links des Mundes, das damals in der verdunkelten Kutsche zu schweben schien. Gorian war der Nachfahre jenes Nachtschattenherrschers, der einst Eolin besiegt und das Reich der Lichtelben zerstört hatte, und Marian wusste inzwischen recht genau, was dieser gefährliche Tyrann von ihr wollte: das Wasser des ewigen Lebens.
Wie soll ich ihm geben, was ich selbst nicht besitze?, dachte sie. Aber auch wenn ich wüsste, wo der Ort sich befindet, und meine Stimme die Quelle wieder aus dem Fels rufen könnte – ich würde diesem boshaften Kerl keinen Tropfen davon gönnen. Lieber sterbe ich, wie Eolin es tat!
Für einen Moment stieg Darions Bild vor ihr auf, und sie empfand einen tiefen Schmerz bei dem Gedanken, ihn niemals in ihrem Leben wiederzusehen. Er war ein Lügner und Betrüger – gewiss. Und dennoch musste sie sich eingestehen, dass sie ihn liebte, dass es keinen anderen gab, der diesen Platz in ihrem Herzen einnehmen konnte. Es war gut, dass Darion nichts von ihrer Gefangennahme wusste, denn sie wollte nicht, dass er sich ihretwegen in Gefahr begab. Er konnte ihr nicht helfen, niemand konnte das, sie war ganz und gar auf sich allein gestellt.
Es war bitterkalt auf dem nackten Felsboden, daher erhob sie sich, sobald es ihr ein wenig besser ging, und begann, in ihrem Gefängnis auf und ab zu laufen. Es waren nur wenige Schritte, dann
Weitere Kostenlose Bücher