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Gesang der Daemmerung

Gesang der Daemmerung

Titel: Gesang der Daemmerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Megan MacFadden
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mehr.«
    »In der Haut dieses armen Burschen möchte ich jetzt nicht stecken.«
    »Sei still!«
    Marian war wie betäubt. Wollte dieser grausige Traum denn niemals aufhören? Würde sie nie daraus erwachen? Was sie soeben gesehen hatte, konnte doch nicht wahr sein! Professor Sereno, dieser launische, schwierige Mensch, der zugleich ein so faszinierender Sänger war – er saß jetzt gewiss in seiner Villa hinter dem Flügel und schikanierte eine ihrer Kolleginnen. Vielleicht die goldblonde boshafte Lillian. Oder Elisabeth, die so eifersüchtig gewesen war, weil Marian beim Hauskonzert auftreten durfte … Nein, Professor Sereno war nicht tot, es war nur ein Schatten, ein Traumbild, das soeben von den schwarzen Fluten verschlungen worden war!
    »Mitkommen!«
    Der Boden des Saals bestand aus poliertem schwarzem Stein, glatt wie ein Spiegel. Während Marian widerwillig zwischen ihren Bewachern dahinschritt, sah sie, dass die unglücklichen Bediensteten, die Sereno so schlecht bewacht hatten, von einer Schar Krieger abgeführt wurden. Ihre gebeugten Rücken und die hängenden Arme drückten aus, dass sie sich dumpf ihrem Schicksal ergaben und recht genau zu wissen schienen, was ihnen bevorstand.
    Der Herr der Nachtschatten, eine hoch aufgerichtete Gestalt in bläulicher Dämmerung, erwartete Marian. Er stand unbeweglich wie eine Statue, an den weiten Ärmeln blitzte hie und da ein Edelstein auf, das Gold an seinem Gürtel glänzte matt. Hell schien nur sein Gesicht, das von der Farbe des bleichenden Mondes war, und je näher sie kam, desto schärfer zeichneten sich auf der fahlen pergamentartigen Haut die beiden Kerben ab. Jetzt begriff sie seine Ungeduld: Er war alt, sein Leben ging dem Ende zu. Nur die Quelle des ewigen Lebens konnte ihn vor dem nahenden Tod bewahren.
    Seltsam geformte Felsen aus grauem Bergkristall wurden nun für Marians Augen sichtbar. Einige davon waren mit Werkzeugen zu Bänken und Stühlen geschlagen, der größte in der Mitte schien Gorian als Thronsessel zu dienen. Andere hatte man im Urzustand gelassen. Sie lagen wie Reptilien mit gezackten Rücken zwischen den Bänken, umgaben den Thron wie eine Schutzgarde uralter versteinerter Echsen.
    Marian war sich sicher, dass diese Echsen einst auch Königin Eolin gesehen hatten. Besiegt und gefangen, ihrer Macht beraubt, der Willkür des Siegers ausgeliefert, hatte sie vor diesem Thron gestanden. Und doch war ihr Wille ungebrochen.
    »Marian Lethaby!«, empfing Gorian sie. »Es ist schade, dass unser Zusammentreffen damals ein solch abruptes Ende nahm. Ich bin ein großer Bewunderer deiner Stimme und wollte dir ein Angebot machen.«
    Er schien auf eine Antwort zu warten, doch sie schwieg. Glaubte er tatsächlich, sie für sich einnehmen zu können? Der Blick seiner kleinen schwarzen Augen irrte an ihr vorbei, umkreiste sie, glitt über ihre Gestalt und bohrte sich dicht vor ihr in den Boden. Auch er war ein Nachtschatten, es fiel ihm schwer, in die hellen Augen einer Elbin zu sehen.
    »Es scheint dort unten im Fels keine Zeit zu geben«, fuhr er fort. »Das ist ein Irrtum. Auch dort unten vergehen Tage und Monate. Auch dort unten werden Monate zu Jahren, Jahre zu Jahrzehnten. In der geräuschlosen Finsternis werden deine Augen erblinden und deine Ohren ertauben, du wirst nicht einmal mehr die Kälte spüren und den Geruch der feuchten Steine erkennen. Deine Gedanken werden immer langsamer in deinem Hirn kreisen, bis sie endlich stillstehen. Dein Körper wird altern und sterben, Marian.«
    Er sprach leise und eindringlich, und Marian verspürte helle Verzweiflung bei dem Gedanken, dass dieses Los der Preis für ihre Standhaftigkeit sein würde. Wenn sie sich Eolins würdig erweisen wollte, dann musste sie dieses Schicksal annehmen.
    »Niemals wieder das Licht sehen«, sprach er weiter, und seine schwarzen Augen krochen langsam an ihrem Gewand hoch. »Niemals wieder im goldenen Sonnenlicht baden, die Farben des Regenbogens über einem tosenden Wasserfall erblicken. Das Funkeln und Gleißen der Wellen spüren, auf denen sich das Licht bricht. Das sanfte Murmeln einer Quelle hören, die zwischen Stein und Geröll ihren Weg findet …«
    Wie gut wusste er, seine Worte zu wählen! Er war ein Nachtschatten und hatte gewiss wenig Freude an Sonne und Licht, aber er verfügte über genug Fantasie, um sich die Empfindungen einer Lichtelbin vorzustellen. Marian schwieg immer noch, sie wusste jedoch, was jetzt kommen würde, und sie wappnete sich. Eolin, die

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