Gesang der Daemmerung
sondern tiefer und kräftig, als redete eine erwachsene Frau.
»Kutsche und Pferde mögen Ihnen gehören, Mr. Sereno, nicht aber die Dienerschaft. Gesira, Latar und George sind meine Untertanen und werden nur meinen Befehlen gehorchen. Also nehmen Sie sich in Acht, dass wir den Spieß nicht umdrehen!«
»Deine … Untertanen?«, fragte er blöde.
»Sie sind Lichtelben, Mr. Sereno. Wussten Sie das nicht?«
»Licht…«
Er konnte das Wort nicht zu Ende sprechen, weil ein plötzlicher Sturm die Bäume niederbog und die Kutsche hin und her schaukelte. Heulend und brüllend fiel der tückische Wind über den Wald her, blies das Lagerfeuer an und ließ die Flammen an den winterkahlen Eichen emporzüngeln. Rauch erfüllte die Lichtung, dunkle nebelhafte Gestalten schienen sich vom Nachthimmel herabzusenken, krochen wie grauer Dunst unter die Eichen und fachten den Brand noch kräftiger an. Man hörte das Ächzen der alten Bäume, die mit den Flammen kämpften, dann blitzten auf der Lichtung die ersten Schwerter auf.
Darion hatte kaum Zeit, seine Waffe aus der Scheide zu ziehen, so rasch fielen Gorians Nachtschatten über die Kutsche her. Noch focht er verzweifelt gegen drei wütende Gegner, hoffte schon, sie zu bezwingen und zu Marian vorzudringen, da geschah das Unfassliche: Die Kutsche hob sich samt ihrer Insassen gen Himmel, getragen von einer gewaltigen Anzahl Nachtschatten – Gorian hatte diesen Coup gut vorbereitet.
Marians helle Rufe gellten in Darions Ohren, und er gebrauchte sein Schwert so kräftig wie nie zuvor, um sich zu ihr durchzuschlagen – vergebens. Über dem Wald tobte der Kampf der beiden Heere, denn Aladion war inzwischen mit seinen Getreuen herbeigeflogen. Gorian hatte jedoch starke Einheiten aufgestellt, die sich Aladions Leuten entgegenwarfen, damit die geraubte Kutsche sicher in seinen Palast gelangte.
Die ganze Nacht über dauerte die Schlacht der Nachtschatten, sie entwurzelte uralte Fichten und Eichen, fuhr dröhnend über die Felsen und scheuchte das Wild in die verborgensten Winkel des Waldes. Zahllose Krieger verloren ihr Leben, wurden zu grauem Dunst und stiegen bei Sonnenaufgang als rötliche Nebelschleier zum Himmel hinauf, wo sie sich auflösten und vergingen.
Kapitel 26
»Du bist nicht allein«, sagte die Stimme. »Ich bin bei dir.«
Der Raum war vollkommen finster. Marian hatte die feuchten Felswände abgetastet und keine Ecken gefunden, nur eine unendliche Folge kleiner und größerer Vorsprünge. Einige waren so spitz, dass man sich daran verletzen konnte, andere bildeten nur flache glatte Wölbungen. Ein kreisrundes Gefängnis tief im Fels. Woher aber drang diese Stimme an ihr Ohr?
»Ich war hier, lange bevor du kamst«, hörte sie die Stimme. »Ich habe auf dich gewartet.«
»Auf mich?«
»Auf dich!«
Es war eine Frau, die mit ihr sprach, und Marian glaubte, diese Stimme schon einmal vernommen zu haben. Vielleicht auch öfter. Vielleicht hatte sie in ihrer Kindheit sogar täglich mit ihr geredet, sie wusste es nicht mehr genau. Ihr Kopf tat weh, und ihre Gedanken waren wirr. Dies alles war ein langer scheußlicher Traum, sie würde sehr froh sein, endlich daraus zu erwachen.
»All meine Hoffnung lag auf dir, Marian. So viele Jahre und Jahrhunderte habe ich geweint, um dir meine Tränen zu geben! Auch all meine Sehnsucht und meine Verzweiflung habe ich für dich aufgehoben.«
Marian lehnte sich erschöpft gegen den Fels und schloss die Augen. Was für eine Folter diese Dunkelheit darstellte! Und dazu diese Stimme! Weshalb ließ diese penetrante Person sie nicht endlich in Ruhe? Sie wollte ihre Sehnsucht und Verzweiflung nicht haben, ihr reichte ihr eigenes Unglück.
»Nur wer so tief gelitten hat, kann so stark werden, wie ich es geworden bin, Marian. Und diese Stärke ist Teil von dir. Sie erfüllt dich, sie wärmt dich und wird dir eine Stimme verleihen.«
Was redete sie da? Marian hatte sich noch nie so schwach und zittrig gefühlt wie in diesem Augenblick, da sie mit geschlossenen Augen in kalter Dunkelheit stand und spürte, wie ihr die Beine unter dem Körper wegrutschten. Tief unter der Erde im grauen Fels war dieses Verlies, kein Laut drang hierher, kein Licht, nicht die mindeste Spur von Leben.
»Vergiss das nicht, Marian! Ich bin bei dir. Eolins Stärke wirkt in dir.«
»Lass mich endlich in Ruhe!«, murmelte Marian.
Ihr wurde übel, und sie musste sich flach auf den kalten Felsboden legen, um nicht das Bewusstsein zu verlieren. Nun endlich verstummte
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