Gesang der Daemmerung
Augenblick vernahm man einen Schrei, der Marian das Blut in den Adern gefrieren ließ. Selbst die Nachtschatten wechselten irritierte Blicke, dann ließen sie von ihr ab und tauchten in die Dunkelheit ein.
Der Schrei war erneut zu hören, und sie erzitterte. Es war der heisere verzweifelte Schrei eines männlichen Wesens, ein Ausruf des Grauens, ein tiefes angstvolles Stöhnen, als blickte jemand auf den eigenen entsetzlichen Tod.
»Nicht die Stimmbänder!«
»Gewiss, es wäre schade um eine solche Stimme«, stimmte jemand sanft zu. »Eine Jahrhundertstimme, so nennt man das, nicht wahr?«
Vor Marian öffnete sich der Fels zu einem breiten Durchgang, und sie blickte in einen riesigen unterirdischen Saal. Bläuliches Licht glomm an den Wänden, die Decke war hoch gewölbt wie in einer Kathedrale, Tropfsteine hingen herab, rötliche und braune Zapfen, an deren Spitzen Wassertropfen blinkten. Sie vernahm das Rauschen eines Flusses, doch sie achtete nicht darauf, denn all ihre Aufmerksamkeit galt dem Unglücklichen, der mit zerrissenen Kleidern und blutenden Füßen am Boden kniete.
»Reißt mir die Zunge heraus!«, stieß Sereno heiser hervor. »Schlagt mir Hände und Füße ab! Macht mit mir, was ihr wollt – aber lasst mir meine Stimme!«
»Ein Wort von dir, und du bist außer Gefahr, Professor des Belcanto …«
Marian musste ihre Augen anstrengen, um den Sprechenden in der bläulichen Dämmerung zu erkennen. Zuerst trat das mondbleiche Gesicht hervor, ein längliches Oval, die Augen tief in den Höhlen, zwei senkrechte Kerben links und rechts des schmal verzogenen Mundes. Er lächelte – es schien ihm Freude zu bereiten, Sereno zu demütigen.
»Ich kenne den Ort nicht … ich schwöre es … so wahr mir Gott helfe!«
»Das ist schlimm für dich, Meister der Töne.«
Es war offensichtlich, dass man Sereno gefoltert hatte, denn er sah schrecklich aus. Man hatte ihm nur Hemd und Hose gelassen, auch diese Kleidungsstücke waren zerrissen, und auf dem weißen Hemd zeichneten sich dunkle und hellrote Flecken ab. Erschreckender noch war für Marian seine demütige Haltung, denn der große kräftige Mann kniete am Boden und streckte dem Herrn der Nachtschatten mit flehender Geste die Arme entgegen. Gewiss, Sereno hatte eine Neigung zu theatralischen Auftritten, doch Marian war sich sicher, dass seine Verzweiflung nicht gespielt war. Als er sich jetzt zur Seite drehte, konnte sie sein Gesicht sehen – es war von zahllosen Schlägen dick geschwollen.
»Was soll ich denn tun?«, stöhnte er. »Ich weiß, dass sich dieser Ort irgendwo im Gebirge befindet, das ist alles.«
»Du langweilst mich, Maestro.«
Der Körper des Nachtschattenherrschers wurde nun deutlicher, eine schlanke hochgewachsene Gestalt, ganz wie ein Adeliger aus dem Mittelalter gekleidet. Der prächtige Gewandrock aus nachtblauem Samt reichte ihm bis zu den Knien, Perlen und kleine Edelsteine waren in die Stickereien der weiten Ärmel eingearbeitet, und in der Taille hielt ein Gürtel mit goldfarbenen Beschlägen das Gewand zusammen. Als er jetzt seinen rechten Arm hob, sah man den weiten Mantel aus schwarzem Samt, der von seinen Schultern bis zum Boden hinabfloss.
»Nein!«, kreischte Sereno, der die Bedeutung dieser Geste offensichtlich kannte. »Nein! Lasst mich! Ich flehe Euch an! Habt doch Erbarmen …«
Er begann, hilflos zu schluchzen, und hielt sich dabei die Hände vor sein zerschlagenes Gesicht. Marian erschauderte bei diesem Anblick – wie rasch hatten Folter und Drohungen aus dem herrischen Professor dieses jämmerliche Bündel Mensch gemacht!
Weshalb hatte man sie hierhergebracht? Um ihr vorzuführen, was geschah, wenn man dem Herrn der Nachtschatten ungehorsam war? Um ihr zu zeigen, wie leicht es für ihn war, ein Wesen zu zerstören?
»Ein letztes Mal, Musikus!«, sagte Gorian. »Sag mir, was du in dem Elbenbuch gelesen hast!«
Seine Stimme klang leise und sehr sanft, doch Marian hörte die Nervosität deutlich heraus, die dahinter schwang. Gorian hatte einen Coup gelandet, doch er hatte das Spiel noch lange nicht gewonnen.
Serenos Antwort bestand aus unverständlichen Satzfetzen, durchsetzt von Stöhnen und verzweifeltem Schluchzen. Soweit Marian verstehen konnte, verriet das Buch tatsächlich den genauen Ort der Quelle nicht, es stand nur geschrieben, dass die Quelle aus einem Felsen hervorbrechen würde, um sich darunter in einem kreisrunden Becken zu sammeln. Es entsprach der Wahrheit, das wusste sie, denn hätte Sereno
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