Gesang der Daemmerung
zusammen, und während ihre Geistkörper in das dunkle Meerwasser glitten, umschwammen die Wassergeister sie, berührten sie mit ihren grünlichen Fischhänden und zogen sie mit sich fort.
»Schnell!«
Darion fasste Marians Hand, und sie folgte ihm in die Dunkelheit des Felsenganges, wo er sich ohne Licht orientieren konnte, sie selbst aber vollkommen blind war. Hohl hallten ihre Schritte, keuchend ging ihr Atem, in Marians Ohren dröhnte ein Pochen, das von ihrem eigenen wild klopfenden Herzen kam. Immer wieder blieb Darion stehen, dann spürte sie seinen kräftigen Arm, der sie umfasste und an die Felswand drückte, und sie wusste, dass es galt, sich vor den Bediensteten und Kriegern Gorians zu verbergen. Nur langsam gewöhnten ihre Augen sich ein wenig an die Dämmerung der Kammern und Gänge, sie sah schwarze Schatten in der grauen Düsternis, nahm Bewegungen wahr, hie und da sogar das mondblasse Gesicht eines Nachtschattens.
Der Berg musste von einem Labyrinth von Gängen durchzogen sein, in dem man jegliche Orientierung verlor. Immer wieder bogen sie um Ecken, folgten Windungen, durchquerten Kammern, in denen Tropfsteingebilde von den Decken herabhingen, die sich mit den am Boden wachsenden Säulen zu langen Stäben vereinigten.
»Hörst du?«, flüsterte Darion.
Beide blieben stehen, und Marian vernahm das Brausen eines Gewässers. Der Kairon. Jener unterirdische Fluss, dessen schwarze Wogen Serenos Körper davongetragen und gegen den Fels geschmettert hatten.
»Hinter dieser Tür muss der Zugang sein.«
Marian hatte keine Tür gesehen, doch Darions Nachtschattenaugen war sie nicht entgangen. Eine schwere dunkle Pforte aus dicken Eichenbrettern, uralt wie das Reich der Nachtschatten und hart wie Eisen. Darion rüttelte daran – sie war verschlossen.
»Wünsche uns Glück!«, wisperte er. »Vielleicht passt er ja.«
Er hatte den Schlüssel mitgenommen, mit dem die Nachtschatten die Tür zur Grotte geöffnet hatten.
Es knackte und knirschte in dem alten Türschloss, das wohl schon lange nicht mehr benutzt worden und vollkommen verrostet war.
Darion arbeitete langsam und geduldig, versuchte es immer wieder, kam millimeterweise voran, bewegte den Schlüssel niemals mit zu viel Kraft, damit er nicht abbrach. Mit einem hässlichen Geräusch sprang der Türriegel schließlich zurück, knarrend ließ die Eichenpforte sich öffnen, dahinter tobte der Fluss durch eine enge Höhle.
»Wir haben es geschafft, Marian! Entgegen die Fließrichtung geht es in die Freiheit!«
»Da täuscht ihr euch!«
Darion fuhr herum und zog sein Schwert, doch noch in der Bewegung begriff er, dass jeder Widerstand den sicheren Tod bedeutet hätte. Sie waren von einer Schar bewaffneter Krieger umgeben, die ihnen ihre gezückten Schwerter entgegenhielten.
»Rührt ihn nicht an!«, rief Marian zornig.
Gelächter aus rauen Kehlen war die Antwort.
»Wir werden ihm nichts tun, schöne Königin. Sein Leben liegt in deiner Hand!«
Kapitel 29
Unablässig trieb der Sturm die Wogen gegen den Fels, wo sie sich mit donnernden Schlägen brachen, zischend emporschossen, zu weißlicher Gischt zerstäubten. Kein Sturmvogel wagte den kühnen Flug über die tosende Brandung, dieser Ort gehörte den Windbräuten und Wassergeistern, die sich dort in wilden Tänzen miteinander vermischten.
»Gib es her!«
»Es gehört mir!«
»Es gehört niemandem!«
Kreischend balgten Sturmfrauen und Fischwesen sich um den braunen Folianten, rissen ihn sich gegenseitig aus den Fingern, schnappten und bissen, zerrten und rissen. Der Buchdeckel brach auseinander und gab die Blätter frei, weißes Pergament flatterte wie eine Schar Möwen über dem Meer, wurde von den Windbräuten umhergewirbelt, unten griffen die grünen Fischfinger der Wassernixen danach. Eine Gischtmuhme fing die braunen Buchdeckel ein und trug sie eine Weile durch die schäumende Brandung, dann langweilte das nasse Lederding sie, und sie überließ es einem Meerelf.
»Wie hübsch es fliegen konnte!«
»Wie gut es den Fischen mundete!«
»Wie schade, dass es nun kaputt ist!«
»Es hat seinen Dienst getan.«
Im großen Saal des Palastes stand Darion mit gefesselten Gliedern vor dem Herrscher der Nachtschatten. Die jungen Krieger, die ihn gefangen hatten, platzten vor Stolz. Sie hatten die beiden Flüchtlinge entdeckt, weil das helle Haar der Elbin weithin leuchtete. Zuerst hatten sie geglaubt, ein Irrlicht hätte sich in den Palast verlaufen, und vorsichtshalber Verstärkung besorgt,
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