Gesang der Daemmerung
bedrohlicher werdende Zischen der Meereswellen, die jetzt schon in den unteren Bereich der Grotte hineinflossen.
»Eolin«, flüsterte sie, »Eolin, sag mir, ob du lächelnd gestorben bist!«
Doch die Stimme schwieg, vielleicht wurde sie auch vom Schlagen und Zischen des aufgewühlten Meeres übertönt. Es musste stürmisch draußen sein, sonst wäre das Wasser nicht mit solcher Gewalt durch die schmale Felsöffnung in die Grotte eingedrungen. Schaumige Wellen leckten gierig in die Höhle hinein, sprühten als weißliche Fontänen empor und stürzten dann in sich zusammen, um wieder von der Felsöffnung angesogen zu werden. Der Atem des Meeres sorgte für ein immerwährendes Kommen und Gehen des Wassers, doch es war nicht zu übersehen, dass der Pegel in der Grotte beständig anstieg.
Marian nahm die Laterne in die Hand und kletterte zur obersten Stufe empor, um sich dort niederzusetzen. Es war das Einzige, das sie tun konnte. Die Frage war nur, wie lange Gorian zögern würde, bevor er sie erlöste. So lange, bis das Wasser auch die Laterne gelöscht hatte? Bis die Fluten ihre Knie benetzten? Bis zu ihrem Bauch, bis zu ihrer Brust, vielleicht gar bis zu ihrem Kinn reichten? Würde er sie ein Weilchen mit dem Tode ringen lassen und sie erst hier herausholen lassen, wenn sie schon halb ertrunken war?
Singen sollte sie, hatte Gorian höhnisch gerufen. Die Fluten des Ozeans beherrschen, so wie sie den Fluss zum Schäumen gebracht hatte. Aber sie wagte nicht einmal zu sprechen, aus Sorge, das heranbrausende Wasser noch mehr zu beunruhigen. Zumal sich in den Fluten, die die Grotte jetzt füllten, immer wieder seltsame Gesichter zeigten, die weder Fischen noch Amphibien gehörten. Sie starrten sie mit glubschigen Fischaugen an und schienen mit runden Mäulern lange Reden zu halten, doch leider konnte Marian kein einziges Wort verstehen. Es mussten Geister sein, Wassergeister, die im Meer lebten und möglicherweise noch nie zuvor eine Lichtelbin gesehen hatten. Ob sie vielleicht gar gekommen waren, um sie in ihr feuchtes Reich zu entführen?
Wieder stürmten die Wogen gegen den Fels, eine schäumende Wassersäule schoss bis zur Decke der Grotte empor. Marian schob die Laterne weiter zurück, damit das Licht nicht durch das umherspritzende Wasser gelöscht wurde, dann starrte sie ungläubig auf die bewegten Fluten. Die Fontäne war wie üblich in sich zusammengefallen, doch ein Rest von ihr war geblieben. Ein Gebilde aus weißem Schaum schwamm in dem dunklen Wasser, verdichtete sich zu einem Körper, Marian erblickte einen hellen Rücken, muskulöse Arme, schwarzes Haar umfloss das mondblasse Haupt des Wesens.
Das war nicht möglich! Ihre Fantasie spielte ihr einen Streich, es war die Sehnsucht, die sie Dinge sehen ließ, die gar nicht da waren!
»Marian!«
Seine Stimme klang gedämpft, übertönte kaum das Brausen und Gurgeln der Flut, die sich jetzt wieder zurückzog. Er wehrte sich gegen den Sog, der ihn wieder zu der schmalen Öffnung zurückziehen wollte. Auch schienen sich einige der Fischgesichter an ihn hängen zu wollen, die er immer wieder von sich abschütteln musste.
»Marian, hilf mir! Reich mir die Hand!«
Nein, es handelte sich nicht um ein Fantasiegebilde – dort in den dunklen Wassern kämpfte Darion gegen Wassergeister und Strömung, und er war verloren, wenn sie ihm nicht beistand! Marian stieg die Stufen bis zum Wasser hinunter und streckte ihm ihre Hand entgegen. Sein Griff war so fest, dass sie erschrak, doch sie hielt stand, zog ihn mit all ihrer Kraft zu sich heran, und erst, als er schon die Felsstufen unter den Füßen hatte, glitt sie aus und wäre fast ins Wasser gerutscht.
Er keuchte vor Anstrengung, stieß noch einmal kräftig mit dem Fuß gegen eines der aufgerissenen Fischmäuler, dann sank er neben ihr in die Knie.
»Das war knapp!«, stammelte er. »Du bist kräftiger, als ich dachte, Marian.«
Darion fuhr sich mit der Hand über das nasse Gesicht und dann über sein triefendes Haar. Danach beugte er sich zur Seite und bemühte sich, das Wasser aus seinem Ohr herauslaufen zu lassen. Marian betrachtete ihn, wie er neben ihr auf dem Fels kniete, nackt, die Haut bleich wie der Mond, jeder Muskel, jeder Schatten zeichnete sich auf seinem Körper ab. Er trug nicht einmal das graue Gewand der Nacht am Leib, nur um seine Körpermitte hatte er mit dem Gürtel ein Bündel befestigt, das wohl seine Kleider enthielt und dessen er sich jetzt entledigte.
Sie hätte zornig sein müssen –
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