Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gesang der Daemmerung

Gesang der Daemmerung

Titel: Gesang der Daemmerung
Autoren: Megan MacFadden
Vom Netzwerk:
beinhaltete zugleich eine Warnung. Darion erinnerte sich schwach, von Kammern und Höhlen tief unten im Felsgestein gehört zu haben. Dort – so hatte einer seiner Kameraden erzählt – würden jene ihre Fehler büßen, die an ihren Aufgaben scheiterten. Jahrelang, jahrzehntelang, bis ans Ende ihrer Tage. Kein Laut drang dorthin, auch waren das Weinen und Stöhnen der Gefangenen in keinem Teil des Palastes zu vernehmen.

Kapitel 4
    »Es besteht ganz und gar aus roséfarbenem Atlasstoff, meine Liebe. Um das Dekolleté eine zarte Perlenstickerei, Mama hat extra roséfarbene Perlen besorgen lassen …«
    Lisa sprach mit vollem Mund und schielte schon nach den beiden Bratenscheiben, die Marian wieder einmal an ihren Tellerrand geschoben hatte. Sonntags stand Fleisch auf dem Speiseplan des Pensionats, das war vertraglich festgesetzt und konnte nicht umgangen werden. Die beiden Bratenscheibchen, die an jeden Zögling ausgeteilt wurden, waren jedoch so dünn, dass Kate behauptete, man könnte durch sie hindurchsehen. Sie hatte es sogar versucht und sich dabei einen Eintrag in Mrs. Potters Büchlein eingehandelt.
    »Wenn du dein Fleisch nicht magst, Marian, dann würde ich es gern übernehmen«, äußerte Lisa begehrlich und zielte mit ihrer Gabel auf Marians Teller. »Es wäre doch jammerschade, wenn es übrig bliebe, nicht wahr?«
    »Eines ist für Kate, das andere für dich!«, entschied Marian salomonisch. Sie hatte noch niemals gern Fleisch gegessen, schon gar nicht diesen Braten, dessen Farbe an graue Steine erinnerte.
    Lisa fuhr fort, die Vorzüge ihres Ballkleides zu schildern, das ihre Mutter und ihre Tante zu Hause für sie nähten. Einige der Mädchen, besonders Gwendolyn, hörten ihr neidvoll zu, da ihre eigene Ausstattung weitaus bescheidener ausfallen würde. Andere kicherten und machten sich flüsternd über die mollige Lisa lustig. Wie sie wohl in dem roséfarbenen Kleid aussehen würde? Wie eine gestopfte Leberwurst vermutlich. Das Dekolleté allerdings war ganz sicher eindrucksvoll, denn Lisa war auch »obenherum« beneidenswert gut ausgestattet.
    »Und die süßen kleinen Schuhchen aus weißem Leder – die müsstet ihr einmal sehen! Aschenputtel ist nichts dagegen! Mit geschwungenem Absatz und einem Schleifchen, in das eine roséfarbene Perle eingeknotet ist …«
    Marian sah, dass ihre Freundin Kate schon einen ganz sehnsüchtigen Blick bekam, und stieß sie mit dem Ellenbogen an.
    »Komm zu dir, Kate!«, flüsterte sie lächelnd. »Du weißt doch, dass sie immer übertreibt. Ich wette, die Perlen sind nur aus Glas, und die Schuhe hat sie von ihrer Mutter geerbt.«
    Kate nickte und machte sich, von Marians Worten getröstet, über die geschenkte Bratenscheibe her. Oben am Kopfende des langen Tisches klopfte Mrs. Potter auf die Tischplatte, um die Mädchen daran zu erinnern, ihre Gespräche leise zu führen und nicht hysterisch zu lachen. Miss Woolcraft gab Reverend Jasper eine weitere Portion Bohnengemüse auf den Teller und lächelte den Seelenhirten dabei vielsagend an. Das üppige Fräulein hatte eine ganz besondere Schwäche für den geistlichen Herrn, die nicht nur platonischer Natur war. Als Mrs. Potters strafender Blick sie traf, erstarb das Lächeln auf ihren Zügen und wich einem schuldbewusst-verzweifelten Ausdruck. Miss Woolcraft war vollkommen mittellos und auf die Stelle als Lehrerin im Pensionat angewiesen. Ein böses Wort von Mrs. Potter, und der Besitzer, Mr. Duncaster, konnte sie auf die Straße setzen. Aus diesem Grund mutete die arme Miss Woolcraft stets wie Wachs in Mrs. Potters Händen an.
    »Und überhaupt haben wir gerade eben noch in der Kirche gehört, dass all das nur eitler Tand ist«, meinte Kate. »Wer will schon ein roséfarbenes Ballkleid haben? Ich jedenfalls würde darin ausschauen wie ein Schlossgespenst!«
    Die Sonntagsmesse in der Kirche St. Jacobs war heute selbst den frömmsten unter den Zöglingen ungewöhnlich lang erschienen, was wohl an der strahlenden Frühlingssonne gelegen hatte, die in den Glasfenstern der Kirche spielte und bunte Schattenbilder auf den Steinfußboden warf. Auch die Bußpredigt des jungen Priesters hatte wenig zu dem prächtigen Tag gepasst – wer wollte schon in Sack und Asche gehen, wenn sich draußen Büsche und Wiesen mit farbiger Blütenpracht bedeckten und in den Fensternischen der Kirche verliebte Vogelmännchen ihre Arien in den Morgen schmetterten?
    »Wozu braucht ein Mädchen überhaupt solch ein albernes Kleid?«, pflichtete
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher