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Gesang der Daemmerung

Gesang der Daemmerung

Titel: Gesang der Daemmerung
Autoren: Megan MacFadden
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Lage, da sie auch am Sonntag eine gewisse Aufsicht über die Zöglinge zu führen hatten. So galt es, jene Mädchen, die Besuch von Eltern oder Verwandten erhielten, sauber gekleidet und rechtzeitig in den Besucherraum zu führen und ihnen – falls ein Ausflug oder Spaziergang geplant war – einzuschärfen, spätestens um sechs Uhr wieder im Pensionat zu sein. Die anderen Mädchen hatten sich in den Klassenräumen oder in der Bibliothek aufzuhalten. Man konnte sich die Zeit mit Lesen oder Schwatzen vertreiben, durfte Briefe schreiben, seine Kleider, Strümpfe oder die Wäsche flicken, Handarbeiten anfertigen oder zeichnen. Alles hatte gesittet und ohne Lärm vor sich zu gehen, da Mrs. Potter in diesem Punkt sehr empfindlich war. Die lauten Stimmen ihrer Zöglinge waren ihr am Sonntagnachmittag, wenn sie ausspannen wollte, ganz besonders widerwärtig. Aus diesem Grund war es den Zöglingen auch verboten, in den Garten zu gehen.
    Trotzdem fand Marian die Sonntagnachmittage ganz angenehm. Vor allem, weil Miss Woolcraft und Mrs. Crincle ihre Aufsichtspflicht recht locker handhabten und nur hin und wieder bei den Mädchen auftauchten. Man hatte seine Ruhe, konnte ungestraft über die Lehrerinnen herziehen, Heimlichkeiten miteinander austauschen, und vor allem stand ihnen die große Bibliothek zur Verfügung, die einst dem adeligen Vorbesitzer gehört hatte. Weder Mrs. Potter noch die anderen Damen hatten eine Ahnung davon, welche Schätze Marian und Kate dort entdeckt hatten. Da gab es dicke Romane, Sammlungen merkwürdiger Geschichten und vor allem einen dicken Folianten mit Zeichnungen des menschlichen Körpers, die die Mädchen mit roten Ohren und glänzenden Augen betrachteten. Weder Marian noch Kate hatten jemals einen erwachsenen Menschen ohne Bekleidung gesehen. Man wusch sich in Unterwäsche, und auch wenn man badete, was im Pensionat einmal in der Woche anstand, behielt man ein Hemd an. Nicht einmal den eigenen Körper betrachtete man ohne Kleider – das war obszön. Und schon gar nicht einen männlichen Körper, wie er in diesem Buch gezeichnet war.
    »Was hat er da in der Mitte?«
    »Großer Gott – ich kann es nicht genau erkennen, Marian! Es schaut aus wie ein … ein … Ich erinnere mich, dass mein kleiner Bruder so etwas hatte, als man ihn badete.«
    »Es schaut recht hässlich aus, findest du nicht, Kate?«
    »Ja, wirklich. Du liebe Güte – ich habe gehofft, es verwächst sich, wenn er größer wird! Aber ganz offensichtlich bleibt es erhalten – armer Peter!«
    »Glaubst du … glaubst du, alle Männer haben dieses … dieses Ding?«
    Sie waren auch, nachdem sie länger nachgegrübelt hatten, zu keinem rechten Ergebnis gekommen, doch als sie weiter in dem Buch blätterten und noch andere Zeichnungen fanden, mussten sie annehmen, dass die Vermutung richtig war.
    »Ich kann mir nicht vorstellen, wozu das gut sein soll«, meinte Kate und runzelte die Stirn.
    Sie versteckten das Buch wieder unten im Regal zwischen den Atlanten und den französischen Wörterbüchern, wo sie es per Zufall gefunden hatten. Keines der anderen Mädchen, nicht einmal Lisa und schon gar nicht Gwendolyn, die Verräterin, ahnten etwas von diesem aufregenden Fund. Es war ihr Geheimnis.
    Nach dem Mittagessen machte Kate sich ausgehfertig, knöpfte einen kleinen weißen Spitzenkragen an das graue Kleid und nahm die Schürze ab. Dann bat sie Marian, ihr das Haar zu kämmen. Kates Haar war kupferrot und sehr kräftig. Wenn die Sonne darauf fiel, versprühte es glitzernde Fünkchen. Hier war ausgleichende Gerechtigkeit im Spiel, fand Marian, dass die unscheinbare sommersprossige Kate mit solch einem prächtigen Haarschopf gesegnet war, nach dem die Leute auf der Straße sich umdrehten. Kate selbst war von diesem auffälligen Schmuck jedoch gar nicht begeistert, sie hätte viel lieber glattes braunes Haar gehabt.
    »Es ist wirklich schade, dass du nicht mitkommen kannst!«, meinte Kate unglücklich.
    »Das finde ich auch. Aber vielleicht klappt es ja an einem der kommenden Sonntage … Ich wünsche dir jedenfalls einen wunderschönen Nachmittag, Kate.«
    »Ohne dich macht mir das alles keinen Spaß!«
    Marian haderte mit dem Schicksal, als sie die Treppen zur Bibliothek hinauflief. Kate würde heute mit ihren Eltern in den Zoo gehen – ein Vergnügen, zu dem man Marian normalerweise eingeladen hätte, aber leider musste sie hierbleiben, um auf den lästigen Gesangsprofessor zu warten. Der sollte sich wundern, wenn er nachher kam –
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